Der Lebensalltag ultraorthodoxer Juden ist durch Abschottung und strenge Reglementierung geprägt. Ein Ausstieg aus diesem Leben ist meist endgültig – und herausfordernd.
von Ladyna
Sie selbst bezeichnen sich als חֲרֵדִים (Charedim), die Gottesfürchtigen, und wollen Gottes Gunst durch strikte Ablehnung weltlichen Wissens und der modernen Mainstream-Gesellschaft gewinnen. Oft wird auch die Bezeichnung ultraorthodoxe Juden verwendet. Ihr Lebensalltag ist von klaren Regeln geprägt, ihre Sozialstrukturen sind hierarchisch. Ehen werden oft arrangiert, eine strenge Geschlechtertrennung wird – vor allem im öffentlichen Raum – durchexerziert. In Israel stellen sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung und grenzen sich auch von anderen Juden stark ab. Dabei nehmen sie eine Sonderstellung innerhalb der Gesellschaft ein – obwohl manche unter ihnen den Staat Israel nicht anerkennen, da ihrer Meinung nach dem Messias die Aufgabe der Staatsgründung zuteilwerden sollte. Die Ultraorthodoxen werden teilweise vom Staat finanziell unterstützt, sind vom ansonsten für Juden obligatorischen Militärdienst befreit und werden dadurch in der übrigen Gesellschaft mitunter als schlechte Patrioten angesehen. Zwar leben etwa zwei Drittel von ihnen – oft auch aus religiösen Gründen – in verhältnismäßiger Armut, stellen aber gleichzeitig eine wichtige Zielgruppe für die Wirtschaft dar, da sie meist ein sehr homogenes Kaufverhalten praktizieren. Aus diesem Grund verzichten einige Unternehmen sogar auf die Darstellung von Frauen in ihrer Werbung, um Boykotte dieser Kaufgruppe zu vermeiden. Gleichzeitig haben die Ultraorthodoxen einen bedeutsamen politischen Einfluss, da oft ohne ihre Unterstützung keine Regierungsmehrheit zustande kommt. Und ihre Zahl wächst aufgrund der hohen Geburtenrate: Laut einer Prognose des israelischen Zentralbüros für Statistik werden sie bis 2034 ganze 17 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Wege in die säkulare Welt
Wer mitten im modernen Israel in einer fundamentalistischen Parallelwelt aufwächst, dem bieten sich kaum Berührungspunkte mit der „modernen“ Gesellschaft. „In unserem Viertel wurde alles Profane ausgesperrt. Aber nur wenige Straßen von meinem Elternhaus entfernt war das allgegenwärtig, was als ‚unbescheiden‘ galt: kurze Röcke, ko-edukative Schulen, Hollywood. Ich habe jahrelang wie in einer Blase gelebt“, berichtet der Aussteiger Benjamin*, der heute in den USA lebt. Abschottung ist gewollt, die Lebenswelt beschränkt sich oft auf einen Radius von wenigen Häuserblöcken, in denen die Läden lediglich religiöse Bücher, koschere Lebensmittel und schwarz-weiße Bekleidung führen.
Trotzdem kehren immer wieder Mitglieder der Gemeinde den Rücken zu. Denn technische Errungenschaften wie Bücher, das Radio und das Fernsehen, haben die „weltlichen Verführungen“ in die Häuser und Köpfe der Ultraorthodoxen transportiert und damit Aussteiger inspiriert. Ebenso wie Internet und Smartphone die „normale“ Gesellschaft fundamental verändert haben, generieren sie für junge Erwachsene aus streng religiösen Elternhäusern einen Zugang zu den Ideen der Mainstreamgesellschaft. Doch das Wissen über die Welt vor der Haustür bringt die Möglichkeit einer Entscheidung mit sich, die oft unumkehrbar ist. Seit den 2010ern ist die Zahl der Aussteiger – vor allem bei den jungen Erwachsenen – stark angestiegen. Man nennt sie die XOs, die Ex-Orthodoxen. Genaue Zahlen sind nur schwer zu erheben, aber gerade in der Altersgruppe der 21- bis 25-Jährigen wird die Aussteigerquote auf zehn Prozent geschätzt. Der Anteil der Aussteiger innerhalb einer Altersgruppe sinkt dabei mit steigendem Alter: Jungen Erwachsenen, die noch keine Verantwortung für eine Familie zu tragen haben, fällt es am leichtesten, den Sprung ins Ungewisse zu wagen. Sie befinden sich ohnehin in einer Lebensphase der Neuorientierung und Emanzipation, in der dieser Bruch leichter fällt als unter anderen Bedingungen.
Der hohe Preis des Ausstiegs
Wessen Leben von Geburt an von religiösen Ritualen geprägt war, wird nicht von einem zum anderen Tag zum Atheisten. Die meisten von ihnen haben eine langwierige und intensive Auseinandersetzung mit der Frage nach Gottes Existenz und dessen Wesen hinter sich. „Ich habe in der Tora gelesen mit der Überzeugung, dass dieses Buch der Schlüssel zu allen Fragen der Welt ist“, erinnert sich der XO Benjamin. „Mein Leben war nur von Gott geprägt und meinem Verantwortungsbewusstsein gegenüber meiner Familie. Aber irgendwann war das einfach nicht mehr genug.“
Nicht jeder, der die Welt der Charedim verlässt, deklariert sich danach per se als säkular; Aussteigerorganisationen schätzen, dass sich etwa 60 Prozent dem gemäßigteren Judentum zuwenden, während die Übrigen sich gänzlich von Religion abwenden. Zudem fürchten sich einige Aussteiger vor Stigmata der säkularen Gesellschaft und gehen nicht immer offen mit ihrer Vergangenheit um. Das macht Schätzungen schwierig.
Ultraorthodoxe Juden in Israel
Trotz Bemühungen und Fortschritten innerhalb des letzten Jahrzehnts waren 2014 lediglich 45 Prozent der Charedi-Männer einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. In den letzten Jahren gab es Anstrengungen, ultraorthodoxe Männer in das Militär zu integrieren. Im Jahr 2013 dienten etwa 3.000 männliche Ultraorthodoxe im Militär, sowohl in integrierten als auch in getrennten Einheiten.
Identität, Zugehörigkeitsgefühl, eine vorbestimmte Lebensplanung – all das bietet das Leben in der religiös geprägten Gemeinschaft. Damit steht es im starken Kontrast zu den Anforderungen der säkularen israelischen Gesellschaft, die dem Bürger andauernd Entscheidungen abringt und kritisches Denken erfordert. Aber darauf wird man in einem ultraorthodoxen Elternhaus nicht vorbereitet. Die meisten Ex-Religiösen zahlen für ihre Freiheit einen hohen Preis: Oft haben die XOs keine säkulare Schulausbildung, haben keine Englischkenntnisse, ja in einigen Fällen sogar keine mathematischen Grundkenntnisse erlernt. In Israel ist der Wehrdienst ein wichtiges Tor in die Berufswelt. Doch viele Ultraorthodoxe ziehen ein Torastudium in der Jeschiwa vor, das sie allerdings kaum für den Arbeitsmarkt qualifiziert.
Die Aussteiger haben von vielen Aspekten des alltäglichen Lebens keinerlei Ahnung, sind oft schon mit Kleinigkeiten überfordert. „In meinem vorigen Leben war alles geregelt, ich musste mich nicht um Essen oder soziale Kontakte sorgen. Und dann musste ich plötzlich Entscheidungen treffen, andauernd wurde ich etwas gefragt“, beschreibt Benjamin die Schwierigkeiten. Viele der XOs scheitern bei der Arbeitssuche, haben kein Geld und keine Wohnung – ganz zu schweigen von Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht. „Ich wusste kaum etwas über das Leben Gleichaltriger und hatte nie lateinische Buchstaben gelernt. Mit fremden Frauen war ich grundsätzlich überfordert“, erzählt Benjamin. Denn in der ultraorthodoxen Lebenswelt waren die Geschlechter strikt getrennt, Nacktheit ein absolutes Tabu.
Wer aussteigt, findet sich auf einmal isoliert wieder und in einen vollkommen neuen sozialen Kontext geworfen, in dem völlig neue Spielregeln und Codes gelten. Die Aussteiger werden von ihren Familien gemieden, von ihren Freunden verleugnet und finden sich in der modernen Welt nur schwer zurecht. Der Austritt aus der Gemeinschaft kann den Bruch mit allen bisherigen sozialen Kontakten bedeuten. Keine Aussteigerbiografie ist wie die andere; die Gruppe äußerst heterogen.
Für Frauen ist es besonders schwierig, den Ausbruch zu wagen, vor allem da ihnen meist nur ein sehr geringes Zeitfenster zwischen Schulabschluss und Verheiratung bleibt. Es kommt zwar vor, dass ganze Familien die Gemeinschaft verlassen, oft bleiben aber Frauen zum Wohl ihrer Kinder in den alten Strukturen verhaftet.
Selbstbestimmung und Unterstützung
Zumeist ist es für die Ultraorthodoxen kein Lebensstil, den sie selbst bewusst gewählt haben, sondern eine Gemeinschaft, in die sie hinein geboren wurden und die sie prägt. Hilfsorganisationen für Aussteiger – wie Hillel, die 1992 aus einer säkularen Bewegung für ein humanistisches Judentum heraus gegründet wurden – möchten jungen Ultraorthodoxen die Wahlmöglichkeiten geben, die sie oft nicht hatten. „Wir glauben, dass alle Menschen das Recht haben, den Lebensstil zu wählen, den sie wollen und versuchen nie, jemanden zu überzeugen, sein Leben zu ändern“, so die Organisation in ihrem Internetauftritt, der für viele der erste Anknüpfungspunkt ist. Gleichzeitig werden eventuelle Interessenten gewarnt, auf Schnellschüsse zu verzichten: „Wir raten denen, die sich entschlossen haben, weniger religiös zu werden, den Übergang gut im Voraus zu planen und Beratung in Anspruch zu nehmen, bevor schnelle Entscheidungen gefällt werden.“ Die Organisation bietet psychologische Betreuung, Bildungsangebote und Vermittlung von Wohnraum, um XOs oder solchen, die es werden wollen, unter die Arme zu greifen.
Mit der steigenden Zahl von XOs nimmt auch die Zahl jener Familien zu, aus denen sich ein Mitglied entfremdet hat. Ihr Umgang mit dieser Situation ist oft von Ächtung der Abtrünnigen geprägt. In einigen Fällen wird sogar die shiva durchgeführt, das siebentägige jüdische Trauerritual für die Toten. Und die Antwort der ultraorthodoxen Gemeinden? Allzu oft weitere Abkapselung oder eine vollkommene Verdammung des Internets.
Auf der anderen Seite werden auch die XOs aktiv; rund 50 Aussteiger haben im vergangenen Jahr mit Unterstützung der israelischen NGO „Out for Change“ eine Sammelklage eingereicht: Sie machen den israelischen Staat verantwortlich für ihre Bildungsmisere und ihre mangelnden Chancen auf dem Arbeitsmarkt, vor allem, weil das religiöse Schulwesen größtenteils vom Staat finanziert wird. Sie sehen eine Bildungs- und Kulturlücke, die in Verbindung mit dem Mangel an familiärer Unterstützung eine Integration in die allgemeine Gesellschaft sehr schwierig und langatmig gestaltet und damit die Aussteiger gesellschaftlich benachteiligt. Bis jetzt hat die israelische Regierung alle Vorwürfe zurückgewiesen und die Eigenverantwortung der Eltern betont – die jedoch einer Ideologie angehören, die Selbstverwirklichung und Wissenschaft ablehnt.
Einerseits wollen die Religiösen ihre Regeln im öffentlichen Leben durchsetzen und fordern etwa Geschlechtertrennung in Bussen; andererseits sind die Strenggläubigen ein schon rein optisch leicht identifizierbares Feindbild und gelten vielfach als Faulenzer. Und auch wenn das Internet einen kleinen Spalt in die säkulare Welt öffnet, bleibt es die Entscheidung Einzelner, zu welcher Gruppe sie gehören wollen. Wie in den meisten Fällen wäre Kommunikation der erste Schritt, um das Verhältnis zwischen Ultraorthodoxen und gemäßigten oder säkularen Juden zu verbessern und Schritte einzuleiten, um etwa die Schulbildung soweit anzupassen, dass später bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt bestehen. „Das Problem ist, dass zwei Gruppen innerhalb einer Gesellschaft bestehen, die unvereinbare und absolute Weltanschauungen vertreten“, urteilt der Aussteiger Benjamin. „Solange sie sich nicht annähern, ist es ein schwieriger Identitätskonflikt für junge Menschen, ihre Zugehörigkeit zu ändern. Es gibt keinen Mittelweg.“
* Name von der Redaktion geändert
„Out for Change“ ist eine NGO (Logo links), die im Sommer 2012 gegründet wurde, um die Rechte derjenigen zu garantieren, die eine ultraorthodoxe Gesellschaft verlassen. Die Tätigkeit der Organisation konzentriert sich auf die Bereiche Bildung (Unterstützung bei der Vollendung von Immatrikulationsprüfungen, Stipendien, Hilfsklassen usw.), Armee (Anspruch auf den Status als „einsamer Soldat“, Anpassung der Armeebeauftragten usw.) sowie Beschäftigung (Berufsausbildung, Platzierungshilfe usw.). Außerdem arbeitet die Organisation daran, Chancenungleichheit öffentlich zu machen und Aussteigern Informationen über ihre Rechte zugänglich zu machen.
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