Von Serienkillern und SS-Konditoren

Szene aus Fritz Langs "M": Prototyp des (deutschen) Angst-Thrillers
Szene aus Fritz Langs "M": Prototyp des (deutschen) Angst-Thrillers

Wer hat Angst vor dem bösen deutschen Mann – und wovor fürchtet er sich selbst? 10 Impressionen aus 80 Jahren Filmgeschichte.

von David

M (Fritz Lang, Deutschland 1931)
Ein Kindermörder versetzt Berlin in Angst und Schrecken. Die Polizei sucht nach ihm, während die organisierten Kriminellen ihre eigene Hetzjagd auf ihn veranstalten. Ein beachtlicher Teil der Bürger sieht eine Chance gekommen, um Nachbarn oder Rivalen zu denunzieren. In atemloser Furcht vor seinen eigenen Taten und schließlich vor dem brutalen Lynchmob irrt der Mörder durch Berlin. M revolutionierte nicht nur die Filmästhetik in seiner dramaturgischen Nutzung des Tons, seiner verschachtelten Erzählweise und seinen kühnen Kamerafahrten, sondern ist auch der Prototyp und das unerreichte Vorbild des (deutschen) Paranoia- und Angst-Thrillers.

Der rote Rausch (Wolfgang Schleif, BRD 1962)
„Bei UNS brauchen Sie keine Angst mehr zu haben!“ So wird ein verwirrter junger Mann in einem kleinen Dorf an der Grenze zur ČSSR begrüßt. Doch Josef Stief ist kein Flüchtling aus dem Ostblock, sondern ein aus der Irrenanstalt geflohener Serienmörder, der an schwerer Amnesie leidet und in permanenter Angst lebt – Angst vor sich selbst, vor seiner unbekannten Identität, vor seinen Mitmenschen. Besonders letztere erweist sich als gerechtfertigt, als sich die Dorfbewohner zusammenrotten, um Josef für die „gerechte Sache“ zu ermorden. Nicht einmal 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein zutiefst pessimistischer Film über ein Land, in dem mehr Massenmörder frei herumlaufen, als es den Anschein hat.

One, Two, Three (Billy Wilder, USA 1961)
C. R. MacNamara, Abteilungschef von Coca Cola Berlin, soll auf die Tochter des großen Chefs aufpassen, die in der „heißen“ Stadt ihren Urlaub macht. Sie verschwindet eines Abends – und ist, als sie wieder auftaucht, nicht nur mit einem ostdeutschen Kommunisten verheiratet, sondern auch noch schwanger. So muss MacNamara den neuen Schwiegersohn seines Chefs schnellstens in ein Muster-Mitarbeiter von Coca Cola verwandeln. Eine schwierige Aufgabe in einem Berlin, das zum Teil gefüllt ist mit Ex-Nazis, die bei Erscheinen einer Autoritätsperson sofort stramm stehen oder gar die Hacken zusammenschlagen (bei der SS allerdings nur in der Konditorei-Abteilung tätig waren), zum anderen Teil von zornig-humorlosen Kommunisten bevölkert wird, die sich wie Beatniks benehmen und US-amerikanische Mädchen verführen. Und dazwischen die Mauer! Nazi-(Nicht-)Vergangenheitsbewältigung und Kalter-Krieg-Paranoia wurden selten so lustig vereint – in einer wunderbar grotesken Komödie, die mit gefühlt 180 Stundenkilometern voranschreitet.

Lifeboat (Alfred Hitchcock, USA 1944)
Irgendwo auf dem Atlantik, während des Zweiten Weltkriegs: ein deutsches U-Boot schießt ein US-amerikanisches Kreuzfahrtschiff ab. Die Überlebenden haben sich auf einem Rettungsboot versammelt und erhalten kurze Zeit später einen neuen Passagier: einen Deutschen aus dem später versenkten U-Boot. Willi wird zwar zum Kriegsgefangenen deklariert, sorgt aber trotzdem für Angst und Paranoia unter den US-amerikanischen Bootspassagieren – offenbar nicht unbegründet, als er zunehmend die Macht über das Boot gewinnt. Lifeboat erzürnte Hollywood: statt eines Anti-Nazi-Propagandafilms entstand ein subtiler Thriller mit einem typisch Hitchcock’ianischen, charmant-verführerischen Bösewicht und einigen guten Amerikanern, die nicht auf Hitlers Befehl morden, sondern nach demokratischer Abstimmung oder aus „gesundem Volksempfinden“ heraus.

The Flight Of The Phoenix (Robert Aldrich, USA 1965)
Ein Flugzeug stürzt in der Sahara ab. Die Überlebenden (zwei Flieger, zwei britische Soldaten, ein Arzt, drei Erdöl-Arbeiter, ein Buchhalter und ein deutscher Ingenieur) warten auf einen Suchtrupp, der nie kommen wird – bis der Deutsche den wahnwitzigen Vorschlag macht, aus den Wrackteilen des Flugzeugs ein neues zusammenzubauen und davonzufliegen! Dem steht zunächst der pure Abscheu der anderen Überlebenden vor dem „Fritz“ im Wege: ein Konflikt, bei dem sich der Deutsche auch als Kopfmensch und moderner Technokrat gegen die hemdsärmligen Arbeiter durchsetzt. Robert Aldrichs Idee, den arroganten britischen Ingenieur aus der Romanvorlage in einen Deutschen zu verwandeln, verleiht dem Film genau die richtige Dosis an zusätzlicher Dramatik.

Suspiria (Dario Argento, Italien 1977)
Die psychedelische Terror-Variation von Disneys Schneewitchen, angesiedelt in einem surreal verzerrten Freiburg: An einer Tanzschule ereignen sich vor den Augen einer US-amerikanischen Ballettschülerin brutale Morde und übernatürliche Phänomene. Italienische Horrorfilme und Thriller handelten fast immer von der Angst fremder Besucher in fremden Umgebungen und Suspiria ist ihr deutschester Vertreter: Der bedrohlich dunkle Wald, ein deutscher Schäferhund für Blinde, der seinen Herrn nach dem Besuch einer bayerischen Wirtsstube angreift, mysteriöse Hexenmythologie und Udo Kier sorgen in den knallig-bunten Bildtableaus für Angst und Schrecken.

Possession (Andrzej Żuławski, Frankreich / BRD 1981)
Erneut Fremde in einem unheimlichen Deutschland, diesmal an der Berliner Mauer. In deren Sichtweite zerbricht die Ehe des US-amerikanischen Geheimdienstagenten Mark und der französischen Ballettlehrerin Anna. In der unheilvollen Atmosphäre des geteilten Berlins entspinnt sich ein Reigen aus häuslicher Gewalt, Paranoia, Wahnsinn, körperlichen Deformationen und Mord. Mark wird von Annas ehemaligem Liebhaber verfolgt, die von ihm beauftragten Detektive verschwinden spurlos, Anna gebiert ein Tentakelmonster, das sich in Marks sexuell aktiveren Doppelgänger verwandelt und der Dritte Weltkrieg bricht aus… Possession ist ein Film ungefilterter emotionaler Intensität und der „deutscheste“ Film des wildesten aller polnischen Regisseure.

Muxmäuschenstill (Marcus Mittermeier, Deutschland 2004)
Mux möchte seinen Mitmenschen die Angst vor dem grassierenden Verbrechen nehmen. Die ganzen Kaufhausdiebe, Raser, Schwimmbadpinkler, Exhibitionisten und Graffitisprayer verfolgt Mux mit seiner scharf geladenen Mauser und seinem Kameramann Gerd und scheut dabei keine Mittel. Muxmäuschenstill wirkte 2004 wie eine überzogene und teils etwas zu selbstzufriedene Satire. Heute, fünf Jahre nach dem Bekanntwerden des NSU, wirkt ein Film über einen Vigilanten, der mit Erpressung, Diebstahl, Freiheitsberaubung, sexueller Nötigung, Folter und Mord sein täglich Brot verdient und dafür sogar gefeiert wird, wie ein Horrorfilm, der keine Distanz mehr zulässt.

Wut (Züli Aladağ, Deutschland 2006)
Die deutsche Angst vor dem Türken, der Deutsche verprügelt, ihnen Schuhe klaut, deren Liebhaberinnen ausspannen will, deren Mütter begrapscht und Heinrich von Kleist beschmutzt – gefilmt als latent erotische Fieberfantasie und durch den Fleischwolf einer radikalsubversiven Satire gedreht. Die expressive, überzogene Inszenierung, eher mit dem Rache-Exploitationfilm als mit dem gediegenen Sozialdrama verwandt, macht aus Wut eine groteske Abrechnung mit deutschen Angstfantasien, und nicht die „realistische“ Abbildung unerwünschter „Problem-Ausländer“, die viele zu sehen glaubten und applaudierten – letzteres passierte wohlgemerkt in einem Land, in dem zeitgleich rechtsradikale Terroristen ungestört mordeten.

Zootopia (Byron Howard, Rich Moore, USA 2016)
In der titelgebenden Tierstadt begibt sich eine junge Häsin mit Dienstmarke und ein smarter Fuchs mit kleinkriminellem Hintergrund auf die Suche nach einem vermissten Otter. Die (scheinbare) Lösung des Falls verursacht in Zootopia eine Massenhysterie, bei der die Bevölkerungsmehrheit eine Minderheit unter Kollektivverdacht stellt und diskriminiert – was von gewissen Kreisen für politische Intrigen genutzt wird… Als Zoomania startete der Film in Deutschland zufälligerweise eine Woche vor den Landtagswahlen, bei der über 1,3 Millionen Menschen die Partei wählten, die kollektive Angst und Massenhysterie predigt. Die Nicht-Intentionalität des Bezugs seitens der Macher steht außer Frage. Als Kollektivportrait einer Metropole in paranoider Angst erreicht Zootopia teilweise eine Dichte, die an Fritz Langs M erinnert.

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