Im Juni findet im Großraum Genf zum sechsten Mal das Kunstprojekt „Play Me, I‘m Yours“ statt: Klaviere werden im öffentlichen Raum zur freien Nutzung aufgestellt.
von AnneG
Auf der Seepromenade am Englischen Garten zieht ein weißes Klavier die Blicke der vorübergehenden Passanten auf sich. Teils im Zebramuster bemalt, teils mit gelben, roten und grünen Kunstblumen geschmückt, steht es in einem bizarren Kontrast zum dunklen Blau des Genfer Sees und dem Azurblau des wolkenlosen Junihimmels. Eine Frau spielt zusammen mit einem Gitarristen und einem Akkordeonspieler einen Tango. Ein Paar tanzt zur Musik. Einige Passanten stehen um das Ensemble und wippen mit den Füßen, andere Zuschauer lauschen den Klängen. Spaziergänger bleiben kurz stehen, schießen ein Foto und schlendern dann weiter.
Was aussieht wie eine besonders aufwendige aber kreative Form einer Straßenmusikszene ist Teil des weltweiten Kunstprojektes „Play Me, I‘m Yours“, das der britische Künstler Luke Jerram 2008 ins Leben rief. Für drei Wochen wurden damals 15 Klaviere an öffentlichen Orten in Birmingham aufgestellt und Anwohner und Besucher zum Musizieren, Tanzen, Singen und Zuhören animiert. „Die Idee für ‚Play Me, I‘m Yours‘ entstand bei den Besuchen meines Waschsalons. Jedes Wochenende sah ich dort die selben Leute, die nie mit einander redeten. Da ist mir auf einmal bewusst geworden, dass es Hunderte von diesen unsichtbaren Gemeinschaften in einer Stadt geben muss“, erklärt Jerram. Ein Klavier sollte als Katalysator dienen, um diese Gemeinschaften zu beleben. Straßenklaviere‚ würden die Interaktion der Bewohner mit ihrer Stadt neu ordnen, so der Künstler: „Sie wurden mit dem Ziel entworfen, die Leute zu animieren, sich aktiv in ihre Stadt einzubringen.“ Mittlerweile finden jedes Jahr in mehreren Städten auf der ganzen Welt „Play Me, I‘m Yours“-Projekte statt: Von Sydney über Hong Kong bis Santiago de Chile haben bis heute 52 Städte und mehr als 1.500 Pianos an diesem Kunstprojekt teilgenommen und damit über zehn Millionen Menschen weltweit erreicht.
Überwältigende Resonanz
Nicht weit von der Seepromenade am Englischen Garten entfernt erhebt sich im Genfer Stadtzentrum ein weiteres Piano majestätisch auf dem Podest vor dem Grand Théâtre. Bemalt mit kräftigen Farben, die sich zu Meerestieren formieren, leuchtet es vor dem altehrwürdigen Steingebäude der Oper. Eine Gruppe junger Menschen hat sich um das Instrument versammelt, singt und musiziert. Genf ist die Stadt mit der längsten Erfahrung bei der Umsetzung des Projekts: Seit 2011 bringt die Genfer Organisation Happy City Lab, die künstlerische und partizipative Projekte im urbanen Raum organisiert, die Klaviere jährlich für zwei Wochen unter die Bewohner und Besucher der Stadt. Dan Acher, Kunstaktivist und Gründer der Organisation, war einige Jahre vorher auf Luke Jerrams Kunstprojekt gestoßen. Begeistert davon wollte er dieses auch in Genf verwirklichen. Was als einmalige Aktion geplant war, feiert in diesem Jahr seinen sechsten Geburtstag. „Der Erfolg war so riesig, dass wir es ein zweites Jahr veranstalteten, dann ein drittes Jahr – und nun haben wir im Juni die sechste Auflage!“, erklärt Catherine Armand von Happy City Lab. Die Resonanz ist jedes Jahr überwältigend: „Die menschliche Wärme, die ihr mitbringt, ist ein Glück ohnegleichen. Vielen Dank an die Gruppe, die diese Stadt zum Leben bringt“, lobte eine Genferin vorletztes Jahr die Umsetzung. Positive Rückmeldungen kommen aber nicht nur von Seiten der Teilnehmer, sondern auch von der Stadt.
In Nähe der Kathedrale St. Peter, am Rand des belebten Place du Bourg de Four, steht ebenfalls ein dekoriertes Klavier auf einem Fußweg. Auf dem leicht verzierten, wallnussfarbenem Holz steht in weißer Schrift der Satz „Jouez, je suis à vous“ – die französische Variante von „Play Me, I‘m Yours“. Dies ist nicht nur der Name des Projekts, sondern gleichzeitig auch eine Einladung an die Passanten, sich hinzusetzen und zu spielen. „Der Satz hilft der Öffentlichkeit, ihre anfänglichen Hemmungen gegenüber dem Piano zu überwinden. Er sagt ‚Ja, du kannst das Klavier berühren und darauf spielen‘“, erklärt Jerram. Happy City Lab lässt zusätzlich jedes Jahr die vier Pianos, die rund um die Uhr gespielt werden können, durch lokale Künstler individuell gestalten. Da jedes Jahr rund 35 Klaviere nach Ende des Projekts aufbewahrt werden, kommen immer mehr verzierte Pianos hinzu. Ob mit oder ohne Dekoration, die Instrumente erfreuen sich großer Beliebtheit: „Die Klaviere sollten den ganzen Sommer bleiben. Sie bringen eine wirkliche Bereicherung für die Sommer- und Urlaubsatmosphäre in Genf“, so eine Anwohnerin. Die Begeisterung ging bereits so weit, dass Personen die Schlösser von Klavieren aufbrachen, um an einigen auch nachts spielen zu können. Abgesehen davon wird den Musikinstrumenten jedoch großer Respekt entgegen gebracht, sodass es bis jetzt weder Fälle von Diebstahl noch mutwilligen Beschädigungen gab – und das nicht nur in Genf und Umland, sondern weltweit. „Wir glauben, dass die Einfachheit und die Großzügigkeit des Projekts ganz selbstverständlich Respekt hervorbringt“, meint Armand und ergänzt: „Die Leute lieben dieses Projekt, das die Atmosphäre ihrer Stadt verändert, Menschen zusammenbringt und so viele magische Momente in den Straßen erzeugt.“ Momente, in denen – meist fremde – Menschen zusammen musizieren und tanzen. In denen Straßen und Plätze nicht nur belebt werden, sondern aufgrund der Musik eine neue Gestalt annehmen. In denen man plötzlich von einer bekannten oder auch unbekannten Melodie überrascht wird, die für einen kurzen Moment den Raum erfüllt. „Vielen Dank für diese fröhlichen Sekunden voll Glück“, schrieb ein Besucher.
Hochkultur in den öffentlichen Raum
Im Sommer 2016 werden sich mit Genf insgesamt 21 Städte und 54 Klaviere an dem Projekt beteiligen. Hier findet „Play Me, I‘m Yours“ sogar länderübergreifend statt: Vor zwei Jahren hat Happy City Lab das Projekt auf die Region Grand Genève ausgeweitet und umfasst damit nicht nur die schweizerischen, sondern auch die französischen Nachbarstädte und -gemeinden. Im Vergleich zum letzten Jahr mit 24 teilnehmenden Städten und 60 Instrumenten kommt es zwar zu einem leichten Rückgang. Das liegt aber vor allem an den verfügbaren Finanzmitteln. Denn Happy City Lab ist letztendlich nur der Organisator bzw. Koordinator, finanziert wird das Projekt, das ein Budget von ungefähr 195.000 Schweizer Franken benötigt, zur Hälfte von den beteiligten Städten und Gemeinden sowie andererseits durch anderen öffentliche Mittel und Spenden. Doch Catherine Armand von Happy City Lab blickt zuversichtlich in die Zukunft: „Wir hoffen natürlich auch 2017 eine siebte Auflage des Projekts zu veranstalten und noch viele weitere. Das hängt aber auch von den Städten ab, sich weiter am Projekt zu beteiligen und es zu finanzieren. Sein aktueller Erfolg stimmt uns aber optimistisch, dass das der Fall sein wird!“ Eine Fortführung des Projektes wird dabei auch von den Fans erhofft: „Es war super! Wir erwarten mit Ungeduld die nächste Auflage“, so eine begeisterte Teilnehmerin.
Den Erfolg sieht Armand nicht nur in dem positiven Feedback, das die Organisation jedes Jahr erreicht, sondern auch in den gesellschaftlichen Aspekten des Projekts: „‚Play Me, I‘m Yours‘ hat Behörden wie Bürger überzeugt, dass diese Art von Projekt, das Kunst und soziale Aktivitäten in öffentlichen Räumen verknüpft, wichtig ist – und sogar essenziell, um den Leuten zu helfen, Respekt und Vertrauen für einander zu gewinnen.“ Der Aufbau von Beziehungen zu fremden Menschen und die Überwindung sozialer Barrieren sind es auch, die Luke Jerram als Ergebnisse anführt. Das Projekt steht damit in der jüngeren Tradition, Hochkultur aus den heiligen Hallen der Museen, Galerien und Theater in den öffentlichen, städtischen Raum zu bringen. Wenngleich eine generelle Messung von Langzeiteffekten dabei vermutlich kaum möglich ist, konstatiert Jerram rückblickend: „In der Vergangenheit sind neue Beziehungen entstanden. Personen, die sich an einem Klavier getroffen haben, haben geheiratet oder erfolgreiche Karrieren vor dem Hintergrund des Kunstprojektes aufgebaut. Es hat das Leben vieler Menschen verändert.“ Auch wenn die Klaviermusik für den größten Teil der Teilnehmer oder Besucher wahrscheinlich nur für einen kurzen Moment – den Moment ihres Erklingens – ihre Wirkung entfaltet, hat sich doch die Wahrnehmung vieler Orte verändert. Orte wie etwa die Seepromenade am Genfer See, wo normalerweise keine Klaviere stehen.
(Fotos: flickr / © Happy City Lab)
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