Rezension: Wider das Vorurteil

Der Kampf gegen die Schleuser gilt als das Allheilmittel gegen kenternde Boote im Mittelmeer. In seinem Buch Die neuen Staatsfeinde räumt der Journalist Stefan Buchen mit dem Vorurteil des skrupellosen Verbrechers auf.

von Babs

Hanna L. hätte sich wohl selbst nie vorstellen können, als Angeklagter in einem Gerichtssaal zu sitzen. Seit fast dreißig Jahren arbeitet er als Ingenieur in einer Essener Baufirma, hat eine Frau und zwei Kinder. Eine gutbürgerliche Existenz – bis zu dem Moment, als der Krieg in seine Heimat kam. Denn Hanna L. stammt ursprünglich aus Syrien, vor fast vierzig Jahren war er zum Studieren nach Deutschland gekommen. Ein Teil seiner Familie lebt bis heute dort und Hanna hält engen Kontakt zu ihr. Zuerst sind es nur vereinzelte Anfragen von Freunden und Bekannten, ob er ihnen nicht helfen könne, nach Deutschland zu kommen. Hanna zögert nicht lange und sucht nach Kontaktpersonen vor Ort. Er überweist Geld an Verwandte, die noch in dem Bürgerkriegsland leben.
Stets behält Hanna dabei das Wohl der Betroffenen im Auge: Das Geld überweist er den Schleusern erst, wenn die Schutzsuchenden sicher in Deutschland angekommen sind. Doch er selbst wird Opfer des Kampfes gegen die Schleuser. Im Oktober 2011 beginnt die Bundespolizei ihn abzuhören, Ende Januar 2013 wird er in einer spektakulären Aktion vor seinem Haus festgenommen. Der Vorwurf: Beihilfe zur illegalen Einreise in die Bundesrepublik, strafbar gemäß Paragraph 96 Aufenthaltsgesetz. In der Hoffnung auf Strafmilderung gesteht er während des Verfahrens. Trotzdem ergeht ein hartes Urteil: zwei Jahre Haft auf Bewährung und eine Geldstrafe in Höhe von 110.000 Euro. Dass Hanna versucht hat, die Sicherheit der Flüchtenden zu gewährleisten, kommt ihm hierbei nicht zugute, im Gegenteil: Damit sei der Anreiz zu fliehen noch größer geworden, besagen die Unterlagen. Die Urteilsbegründung des Richters liest sich zynisch: Hätte er den Syrern unbedingt helfen wollen, hätte er es ja auf andere Art und Weise tun können. Dennoch wird der Schlag gegen Hanna in der Presse als „Sieg im Kampf gegen die Schleuser“ gefeiert. Wie kann es also sein, dass ein Akt der Menschlichkeit vor dem Strafgericht endet?
Stefan Buchen hat Hanna auf seinem Weg begleitet und die Geschichte anschließend verschriftlicht. In Die neuen Staatsfeinde stellt der Journalist des ARD-Magazins „Panorama“ eindringlich dar, wie unter der Vorgabe, einen Kampf gegen Schleuser zu führen, auch Fluchthelfer belangt werden, die an der Hilfe kaum etwas verdient haben – wie Hanna. Zwar hat der Ingenieur vier Prozent jeder Überweisung als „Gebühr“ einbehalten – diese teilte er jedoch mit seinem Bruder, der die Auszahlungen in Syrien vornahm.
Das Urteil erging im Dezember 2013, lange bevor die Not abertausender Flüchtlinge im Sommer 2015 in den Fokus medialer Berichterstattung geriet. Im Zuge der erschreckenden Bilder von zusammengepferchten Menschen in Ungarn riefen Menschenrechtsorganisationen auch Privatpersonen dazu auf, Flüchtlinge im Auto über die Grenze nach Deutschland zu bringen. Wie Hanna haben sie sich strafbar gemacht – und diese Absurdität führt Buchen vor.
Hanna sagt, er habe mit der Fluchthilfe aufgehört. Er strengte in den Verhandlungen die grundsätzliche Frage des „unrechten Rechts“ nicht an; er möchte kein Märtyrer sein. Doch Stefan Buchen gibt sich mit der Schilderung des Falls nicht zufrieden. Mit Hanna porträtiert er einen Menschen, der rein altruistisch und aus dem Gefühl der Verantwortung für seine Mitmenschen handelt – fernab des weit verbreiteten Bildes vom skrupellosen Schleuser, der für abertausende Euro die Schutzsuchenden auf eine gefährliche Fahrt über das Mittelmeer schickt.
Buchens Reportage ist kein sachlicher Bericht, der Autor bemüht sich nicht, seine Fassungslosigkeit über das Urteil oder seine Sympathien für Hanna und seine Handlungen zu verbergen. In Zeiten, in denen Flüchtlingsunterkünfte brennen und Politiker sich über Asylobergrenzen streiten, ist ein solches Buch wichtig, denn es zeigt wieder, dass hinter den abstrakten Zahlen individuelle Schicksale stehen. Und es erinnert daran, dass Fluchthilfe primär ein Akt der Menschlichkeit ist und Kriminalität überhaupt erst dann ins Spiel kommen kann, wenn die Politik versagt.

Stefan Buchen:
Die neuen Staatsfeinde. Wie die Helfer syrischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland kriminalisiert werden
Dietz Verlag 2014
200 Seiten
14,80 €


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