Der Kinomagier, der nicht stehen blieb

(Foto: flickr/ Recuerdos de Pandora)

Der Name Orson Welles ist fast untrennbar mit Citizen Kane verbunden. Doch der Regisseur suchte auch während der folgenden vier Jahrzehnte rastlos nach einer neuen Kinosprache. Ein Streifzug durch das Werk des Ausnahmefilmemachers zum 100. Geburtstag.

von David

Wutentbrannt knallt der Bankier Thatcher eine Ausgabe des Inquirer auf den Schreibtisch des Chefredakteurs und fragt ihn, ob das seine Idee davon sei, wie man eine Zeitung mache. “I don’t know how to run a newspaper, Mr. Thatcher. I just try everything I can think of”, antwortet Charles Foster Kane mit einem verschmitzten Lächeln. Diese Bereitschaft, Regeln zu ignorieren oder sogar zu brechen und neue Wege zu betreten, kennzeichnet auch Orson Welles’ gesamte Arbeit als Filmregisseur – vom legendären Citizen Kane bis zu den teils obskuren Spätwerken in den 1970er Jahren.

Jenseits von Hollywood
Aller heutigen Kanonisierung zum Trotz war Citizen Kane, als er 1941 in die Kinos kam, eine Anomalie. Ein junger Theater- und Radiokünstler, der drei Jahre zuvor mit seinem Radiohörspiel von The War of the Worlds Berühmtheit erlangt hatte, erhielt von einem Hollywood-Studio die Möglichkeit, seinen ersten Film mit voller Kontrolle über das Endprodukt zu drehen. Heraus kam ein Werk, das genau der Vision seines Regisseurs Orson Welles entsprach, jedoch Hollywood und viele Zuschauer verstörte: eine gallige Satire über einen unsympathischen Medienboss; ein Film, der das Hollywood-Ideal der „unsichtbaren Regie“ mit außergewöhnlichen Kameraperspektiven und achronologischer Erzählung über Bord warf. Durch hohe Tiefenschärfe und ausgeklügelte Bildkompositionen wurde der Zuschauer auch dazu gezwungen, selbst zu entscheiden, welchen Szenenelementen zu folgen sei. Citizen Kane brach nicht nur mit den Konventionen, wie ein Hollywood-Film auszusehen habe. Er brachte auch den mächtigen Medien-Magnaten William Randolph Hearst, der sich in Charles Foster Kane wieder zu erkennen glaubte, dazu, jegliche Erwähnung des Films aus seinen Publikationen zu verbannen – was die Einnahmen wahrscheinlich drastisch minderte. Nach Citizen Kane galt Welles in der Traumfabrik als Kassengift. Mit Ausnahme einer extrem kostengünstigen Macbeth-Adaption 1948 wurden alle seine späteren Hollywood-Filme von den Studios gekürzt, umgeschnitten oder mit Nachdrehs modifiziert. Seine Proteste nutzten wenig und aufgrund des Drucks der Filmstudios ging Welles andere Wege und probierte alles aus, was ihm einfiel – was vor allem hieß, Filme aus eigener Tasche zu finanzieren. Othello war der erste von vielen unabhängigen Welles-Filmen. Über drei Jahre dauerte die Produktion bis zur Premiere 1952: Gedreht wurde, wenn Welles mit den Gagen für Darstellerrollen in fremden Filmen gerade Geld für die Produktion aufbringen konnte. Improvisation war nötig: Eine Sequenz wurde in einem Dampfbad mit Darstellern in Badetüchern gedreht – die Kostüme waren aufgrund finanzieller Schwierigkeiten gepfändet worden. Aus dem fragmentarischen Dreh heraus entstand auch ein fragmentarisch wirkendes Werk, voller brutaler, irritierender Schnitte, erzählt in einem teils schwindelerregenden Tempo. “Movies should be rough” – so die Überzeugung des Regisseurs. Mit über einer Million Zuschauern kam die „rohe“ Shakespeare-Verfilmung in Frankreich verhältnismäßig gut an, in den USA galt sie drei Jahre lang als unverkäuflich und wurde bei der Kinoauswertung schließlich ignoriert.

Film, Kunst und Magie

Welles’ erneuter Versuch, mit Hollywood zurecht zu kommen, scheiterte endgültig 1958, als ihn das Universal-Studio nach dem Dreh des Thrillers Touch of Evil aus dem Schnittraum verbannte. Ab dann lebte und arbeitete der Regisseur vorwiegend in Europa. Die Zahl der Filmprojekte nahm rasch zu, Budget und Veröffentlichungsfrequenz sanken. Die ab 1960 veröffentlichten Filme bieten einen interessanten Einblick in ein vielfältiges, vernachlässigtes Spätwerk. The Trial (Frankreich, 1962) enttäuschte nicht nur Kafka-Puristen, sondern auch Welles-Anhänger, die sich ein zweites Citizen Kane wünschten, doch besonders französische Kritiker lobten die expressionistischen, surrealen Bilder. In Chimes at Midnight (Spanien, 1965) adaptierte Welles vier Shakespeare-Stücke zu einer Charakterstudie über Falstaff, einen Ritter, der bei seinem Fürsten zunehmend in Ungnade fällt, als dieser nach der Königskrone greift. Aus der komischen Figur des britischen Dramatikers machte Welles ein tragikomisches Opfer unmenschlicher Realpolitik – dieser melancholische Appell an Freundschaft und Menschlichkeit gilt vielen Filmkritikern als iötimativer Welles-Geheimtipp. Der faszinierendste von Welles’ späten Produktionen dürfte aber F for Fake sein (Frankreich, 1973), den er als “new kind of film” und “personal essay film” bezeichnete. Es ist eine Dokumentation über den Maler und Kunstfälscher Elmyr de Hory und dessen Biografen Clifford Irving, der selbst wiederum eine gefälschte Autobiografie des Filmemachers und Unternehmers Howard Hughes produziert hatte. Diese Elemente verbindet Welles zu einem komplexen Essay über Kunst und Autorenschaft, Künstlerkult und Kunstkritik, Illusionen und Magie. Welles, lebenslanges und von Kollegen geschätztes Mitglied der International Brotherhood of Magicians und der Society of American Magicians, stimmt den Zuschauer zu Beginn höchstpersönlich mit Münzentricks auf den Film ein, beendet ihn mit einer Levitationsvorführung und lässt zwischendurch seine Lebensgefährtin und Co-Autorin Oja Kodar in einer Aktentasche verschwinden. Kunst und Magie als Illusion – “Why not?”, fragt Welles amüsiert und führt den Zuschauer anderthalb Stunden durch eine Wundertüte an kunstphilosophischen Überlegungen: Was ist Autorenschaft? Sind identische Kopien weniger wert als Originale? Wie verändert Kapitalisierung die Kunstwelt? In einer witzigen und erotischen Kurzgeschichte über Pablo Picasso wird der Personenkult um Künstler auf die Schippe genommen. Welles spart auch sein eigenes Werk nicht aus, wenn er den Nachrichtennachruf auf die Titelfigur von Citizen Kane mit einem fiktiven Nachruf auf Howard Hughes parodiert. Mit F for Fake brach Welles auch mit dem klassischen fiktionalen Erzählkino. Essays sollten ihm fortan ermöglichen, modern, zeitlos und persönlich zu filmen. Unter anderem seine eigenen Werke wollte er durch Analyse und Diskussion kritisch revidieren: In diesem Zyklus wurde nur FilmingOthello’ (BRD 1978) fertig gestellt. Überhaupt: Filmemachen als permanenter Prozess ohne festes finales Ergebnis – kaum jemand steht so sehr dafür wie Welles. Kein anderer Regisseur hat so viele Projekte gestartet und nicht zu Ende bringen können – oft mangels Geld. “He never stopped thinking about completing a film, never! Everything was work in progress. Since the films were his own productions he didn’t have to set a deadline”, so Oja Kodar über ihren Lebensgefährten.

Unentdeckte Bilderwelten
Fast folgerichtig ist Welles’ Magnum Opus, Don Quixote, ein unvollendeter Film. Von 1955 bis zu seinem Tod 1985 arbeitete er immer wieder an dem Projekt, das als Low-Budget-Fernsehauftrag begann. Mit selbstfinanzierten Nachdrehs modifizierte Welles Don Quixote stetig, nahm ihn auseinander, setzte ihn neu zusammen, bis die Geschichte Don Quixotes und Sancho Panzas als Anachronismen in der modernen Welt zu einem umfassenden Essay über Spanien im 20. Jahrhundert wurde. Die ungewöhnliche Cervantes-Verfilmung ist somit auch Ausdruck der Abkehr vom klassischen Erzählkino hin zum experimentellen Essay. Veröffentlicht wurde er nicht: Welles wollte daran so arbeiten wie ein Schriftsteller an einem persönlichen Roman – ohne Zeit – und Veröffentlichungsdruck. Es gibt immer noch mehr unvollendete und unveröffentlichte Welles-Filme als solche, die ein Publikum im Kino oder Fernsehen gefunden haben. Oder im Theater: 2013 wurde die Arbeitskopie eines zweiteiligen Films gefunden, der 1938 eine multimediale Aufführung des Theaterstücks Too Much Johnson begleiten sollte. Ein weiterer verschollener Film, diesmal aus der Spätphase, wird voraussichtlich zum 100. Geburtstag des Regisseurs am 6. Mai 2015 seine Weltpremiere feiern, rekonstruiert anhand eines Rohschnitts: The Other Side of the Wind, gedreht 1970–1976, eine wüst-erotische Satire über die letzten Tage im Leben eines Regisseurs, der sein Comeback in Hollywood vorbereitet. Der Schlussfolgerung des Filmkritikers und Welles-Kenners Jonathan Rosenbaum über den Ausnahmefilmemacher ist kaum etwas hinzuzufügen: Fast drei Jahrzehnte nach seinem Tod ist nach wie vor keine wirklich umfassende Evaluierung seines Gesamtwerkes möglich – geschweige denn ein definitives Urteil darüber.

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