Immer wieder landeten Schriftsteller im Gefängnis. Viele reflektierten ihre Erfahrungen literarisch – so Fjodor Dostojewski in Aufzeichnungen aus einem Totenhaus und Hans Fallada in Wer einmal aus dem Blechnapf frißt.
von David & Lena
Am 23. Dezember 1849 sollte Fjodor Dostojewski zusammen mit anderen Mitgliedern des Petraschewski-Kreises hingerichtet werden. Die ersten drei Todeskandidaten waren schon an den Erschießungspfosten gebunden, als die zarische Urteilsrevidierung verkündet wurde. Nach dieser makabren Scheinhinrichtung wurde der 28-jährige Schriftsteller für seine Teilnahme am progressiven Lektürezirkel zu vier Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt. Im sibirischen Gebiet Omsk verbüßte Dostojewski ab 1850 seine Strafe und begann kurz danach, an den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus zu schreiben.
In den Aufzeichnungen erzählt die fiktive Hauptfigur, der adelige Mörder Alexander Gorjantschikow, von den Bedingungen im sibirischen „Totenhaus lebendig Begrabener“. Den Häftlingen werden mehrere Kilo schwere Eisenketten an die Füße geschmiedet. Sie verbringen die Nächte in einer überfüllten, je nach Jahreszeit unterkühlten oder überhitzten Schlafbaracke. Tagsüber werden sie zur Zwangsarbeit geführt. Zwischen Arbeitsende und Schließung der Baracke sind die Häftlinge sich selbst überlassen.
„Mit der Zeit begriff ich, dass es außer dem Verlust der Freiheit, außer der Zwangsarbeit im Leben des Sträflings noch eine Qual gibt, die fast größer als all die anderen ist: das erzwungene allgemeine Zusammenleben.“ Aus diesem Mangel an Privatsphäre versucht Gorjantschikow das Beste zu machen: Interessiert beobachtet er seine Mitgefangenen und trifft erstmals auf das russische Volk – Bauern und gemeine Soldaten. Diese begegnen den gefangenen Adeligen und Offizieren mit Misstrauen und Verachtung. Gorjantschikow schafft es immerhin, distanziert-respektvoll behandelt zu werden. Im Gefängnis lernt er auch das russländische Vielvölkerreich kennen: Kaukasier, Juden, Polen und Ukrainer. Wie die Adeligen bilden sie marginalisierte Häftlingsgruppen – hier ist schon der später noch virulentere Antipolonismus und Antisemitismus Dostojewskis zu spüren.
Auferstehung von den Toten
Dostojewskis Aufzeichnungen sind für ihr düsteres Grundthema erstaunlich leichtfüßig. Der Ton ist distanziert, leidenschaftslos, ohne Hass, ohne Selbstmitleid. Viel eher erzählt er auch von einer spirituellen Erweckung. Der Erzähler versucht, die Gefängniserfahrung in etwas Positives umzudeuten, indem er in seinen Mitgefangenen das Beste sucht. An die Zwangsarbeit gewöhnt er sich allmählich. Der Roman endet mit der Entlassung, die Gorjantschikow als Neuanfang deutet: „Ja, mit Gott! Freiheit, neues Leben, Auferstehung von den Toten. Welch ein herrlicher Augenblick!“ Dostojewski selbst wandelte sich während seines Gefängnisaufenthalts vom revolutionären Progressiven zum christlichen Konservativen. Das Gefängnis als Ort einer spirituellen, christlichen Reinigung taucht später auch in Schuld und Sühne auf.
Aufzeichnungen aus einem Totenhaus wurde in Fortsetzung 1861/62 in der Zeitschrift Wremja veröffentlicht, die Dostojewski mit seinem Bruder Michail publizierte. Es war der erste detaillierte Bericht über Gefängniszustände, der in Russland veröffentlicht wurde – was in der Reformära des Zaren Alexanders II. möglich war. Mindestens die 4.000 Abonnenten der Wremja dürften die Aufzeichnungen aus einem Totenhaus rezipiert haben: eine große Zahl in einer Zeit, in der „Öffentlichkeit“ überhaupt erst entstand. Dostojewski referierte sein Werk vor einem Publikum aus revolutionären Studenten, die er später in Schuld und Sühne oder Die Dämonen als Subjekte menschlicher Abgründe beschreiben würde. Diese deuteten Dostojewskis Werk als mächtige Allegorie auf die bleierne Herrschaft Nikolaus’ I. Schriftstellerkollege und Konkurrent Lew Tolstoi lobte das Werk als Vorbild für „religiöse Kunst, die von Liebe zu Gott und zum Nächsten inspiriert wurde“. Der Roman fand später großen Anklang sowohl bei Friedrich Nietzsche, den die Psychogramme der Verbrecher faszinierten, als auch bei Lenin. Das umfassende Straflagersystem, das Letzterer schuf, machte eine Fortführung der Gefängnisliteratur notwendig: Unter anderem mit Alexander Solschenizyns Der Archipel Gulag sowie Warlam Schalamows Erzählungen aus Kolyma fanden Dostojewskis Aufzeichnungen auch im 20. Jahrhundert Wiedergänger.
Sah Dostojewski die Entlassung aus dem Gefängnis als eine Art christlicher Wiedergeburt, begannen bei einem anderen Autoren mit dieser Zäsur die existentiellen Schwierigkeiten erst wirklich. Als Rudolf Dietzen 1924 über seinen Gefängnisaufenthalt schrieb: „Das Leben eines Strafgefangenen ist schwer und dunkel“, ahnte er noch nicht, dass auch seine folgenden Lebensjahre dunkel sein würden. Um finanzielle Mittel für seine Alkohol- und Morphinsucht zu beschaffen, strapazierte er sein Vorstrafenregister und blickte anschließend erneut durch die Gitterstäbe. Nach seinem Welterfolg von 1932 Kleiner Mann – Was nun?, der sich am eigenen Lebenslauf orientierte, öffneten sich ihm unter dem Pseudonym Hans Fallada die Türen zur internationalen Welt der Literatur. Die Lebenszeit im Gefängnis unterfütterte so auch einen weiteren Erfolgsroman: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt.
Dessen Protagonist Willi Kufalt, der fünf Jahre lang aus jenem Blechnapf fraß, träumt sich voller Hoffnungen durch die letzten Tage seiner Haftzeit. Er plant ein neues Leben in Hamburg, erwartet Freiheit, Frauen und Freudentaumel. Im Hamburger Fürsorgeheim für ehemalige Gefängnisinsassen findet er jedoch nur Demütigung und Unterdrückung. Ausgangssperre und schlechtbezahlte Schreibarbeit treiben Kufalt zur Eigenverantwortlichkeit: Auf der Suche nach Wohnung, Arbeit und sich selbst beschreitet er steinige Wege, gefüllt von Verzweiflung und Einsamkeit. Immer wieder wird der Exsträfling von Vermietern, Arbeitgebern und Frauen aufgrund seiner abgebüßten Haftzeit verschmäht. Schließlich hat er ein Zimmer in einem Hinterhof, „ein dunkles schmieriges Loch mit trüben Fenstern neben einer schwarzen Küche, so groß wie ein Handtuch, mit hunderttausend Schaben.“ Nur, wenn er seine Vergangenheit stillschweigend auf sich beruhen lässt, wird er akzeptiert. Als er zu Unrecht eines Diebstahls bezichtigt und festgenommen wird, verliert er die Hoffnung auf ein normales Leben. Nach Beweis seiner Unschuld fällt er in kriminelle Muster zurück und beginnt Handtaschen zu stehlen. Seine Ganovenkarriere gipfelt im Plan eines Juwelenraubes. Hintergangen von einem Ex-Mithäftling endet dieser allerdings mit weiteren sieben Jahren Haft. Nach seiner Resozialisierungs-Odysee ist der Protagonist erleichtert über diese „Heimkehr“. „Durch das Gefängnis gehen noch die üblichen, altgewohnten Abendgeräusche: […] Kufalt ist in Ordnung. Kufalt ist zufrieden.“
Im Vorwort zur ersten Auflage widmete Fallada die Geschichte des Willi Kufalt dem Zweck, den Strafvollzug der Weimarer Republik zu kritisieren – und zu zeigen, wie die Gesellschaft den Gestrauchelten zu immer neuen Verbrechen zwingt: Kufalt scheitert täglich an seinen Mitmenschen.
Parallelwelten
Seite um Seite lässt Fallada den Leser durch minutiöse Darstellung den Niedergang des Protagonisten mitfühlen und erweckt mit Detailtreue die Zwischenwelt der ehemaligen Strafgefangenen zum Leben. Ohne Anklage, Moralisieren oder Gejammer ruft der Roman zur Gefängnisreform auf. Diesen Ruf hörten auch die Nationalsozialisten. Im Wege der „Nachzensur“ sollte der Autor Fallada ausgeschaltet werden. Um Schmähungen der nationalsozialistischen Literaturkritik wie „peinliches Buch mit dem fauligen Aasgeruch der Weimarer Systemzeit“ zu umgehen, änderte er kurzerhand das Vorwort des Buches. Er belächelte in seiner neuen Vorbemerkung die Humanität des Weimarer Systems und bezeichnete diesen politischen Schutzmantel selbst als „Knix“ vor den Nationalsozialisten.
Eine breitere Rezeption des Werkes begann in den 1960ern. Bis dahin wurde der Roman in der DDR zur Aufarbeitung der Weimarer Republik auserkoren; in Westdeutschland galt er lange Zeit lediglich als außerordentliche Unterhaltungsliteratur. Dagegen ist das Hauptwerk Alfred Döblins, der mit Berlin Alexanderplatz 1929 ebenfalls die Resozialisierungsbemühungen eines Exhäftlings der Weimarer Republik thematisiert, viel intensiver wahrgenommen worden und galt schon bald als Klassiker der Moderne.
Fallada erlangte eine solche Hochachtung erst in den 1960er Jahren. Insbesondere soziologische Interpretationen über seine wirklichkeitsnahe Gesellschaftsdarstellung oder psychologische Analysen seiner Romancharaktere rückten das vielschichtige Potenzial des Romans ins Rampenlicht. Eine Besonderheit des Blechnapfs ist die unerwähnte politische Situation. Diese Lücke ist gerechtfertigt. Zum einen lebt Kufalt nach Günter Caspar, dem Herausgeber einer umfassenden Fallada-Werkausgabe, in einer Zweitwelt, die sich außerhalb der Wirklichkeit abspielt. Zum anderen ist die politische und gesellschaftliche Kritik nach Hermann Hesse zwischen den Zeilen zu lesen. Aufzeichnungen aus einem Totenhaus und Wer einmal aus dem Blechnapf frißt bilden zusammen gelesen eine Art Teufelskreis, der sich heute auch jenseits von Bücherseiten wiederfindet. Eine Läuterung mündet nicht unbedingt in das christliche Glück – das Individuum kann sich einer erneuten Kriminalisierung nicht immer entziehen.
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