„Gibt es in Europa Liebe wie bei uns?“

Händchenhalten ist in der Öffentlichkeit erlaubt, Küssen jedoch verboten. (Foto: © Samuli Schielke)

Ein Finne, ein Deutscher, ein Schweizer – drei Ethnologen, die die Gesetzmäßigkeiten der Liebe in Ägypten erforschen. Ihre Arbeit zeigt vor allem eins: Im Land am Nil ist Liebe eine Obsession. Und ziemlich kompliziert.

von Iris Mostegel

Eigentlich wollte er nur ein paar Orangen kaufen. Der schlaksige Forscher aus Berlin hatte ja nicht ahnen können, dass seine schlichte Bemerkung „Sag mal, spielt da im Radio nicht das Liebeslied Inta Umri?“ den ägyptischen Obsthändler dazu veranlasste, seine Kollegen von den Nachbarständen zusammenzutrommeln. Und dann war da auf einmal dieser Menschenauflauf, der ihn umringte und begeistert in die Hände klatschte. „Ya khawaga, ghanni! – Ausländer, sing!“, jubelten sie. Der Forscher holte tief Luft und begann zu singen. „Inta umri illi ibtada be nurak sabahu – Du bist mein Leben, dessen Morgen sich mit deinem Licht erhob.“ Die Leute um ihn herum lachten – ein Ausländer, der das Lied der großen Umm Kulthum beherrschte, das hatten sie noch nie gesehen. Und nachdem der Deutsche sein Ständchen beendet hatte, begann er das zu tun, weshalb er nach Ägypten gekommen war: Er sprach mit den Leuten über die Liebe, was diese bereitwillig taten, denn jemandem, der die Liebeslyrik von Umm Kulthum kannte, dem konnten sie vertrauen.
Der Forscher aus Deutschland heißt Steffen Strohmenger. Heute sitzt er in seinem Büro in Berlin-Kreuzberg, wo er nach seiner Rückkehr aus Kairo die Ergebnisse seiner Feldforschung in einem Buch niedergeschrieben hat. „Faszinierend ist“, sagt der Ethnologe von der Uni Halle, „dass für einen westlichen Besucher die Liebe kaum sichtbar ist – wenig körperliche Nähe, geschweige denn Küsse in der Öffentlichkeit. Also redest du mit Ägyptern über die teurer gewordenen Tomaten oder Politik. Aber dann entdeckst du staunend, dass es eigentlich die Liebe ist, die sie besonders beschäftigt.“

Gefühle als Störfaktor
In Gesang, in Film, in Talkshows und im Gespräch mit Freunden: Im Land am Nil ist il-hubb – die Liebe – überall und allgegenwärtig, quer durch alle Gesellschaftsschichten vom intellektuellen Universitätsprofessor bis zum ungebildeten Gemüsejungen. Verherrlicht und zelebriert, gefürchtet und verschmäht. Verschmäht, da die großen Gefühle dem traditionellen Konzept ehelicher Verbindungen, basierend auf Vernunft, zuwiderlaufen. Gefürchtet, weil die Macht der Liebe diese Kalküle durcheinander zu bringen vermag. Und aus genau denselben Gründen auch verherrlicht und zelebriert – das begehrenswerte Unerreichbare, nach dem zu streben jeder trachtet. „Die großen Gefühle sind ein Störfaktor bei einer Heirat“, sagt Ethnologe Strohmenger. „Manche sehen das so, als ob man in betrunkenem Zustand einen Geschäftsabschluss tätigen wollte.“
Gefühle versus Vernunft. Wie sind diese beiden Stränge zusammenzuführen? „Das ist die Frage, die die Gesellschaft gerade beschäftigt“, sagen Samuli Schielke, der finnische Ethnologe von der Berliner Forschungseinrichtung Zentrum Moderner Orient und sein Schweizer Kollege Aymon Kreil von der Universität Zürich, die so wie Strohmenger seit Jahren die Liebe in Ägypten untersuchen. Eigentlich waren sie in das Land gereist, um über religiöse Ideale im Alltag und Ethikfragen im Islam zu forschen, doch immer, wenn sie darüber mit ihren Gesprächspartnern diskutierten, kam die Rede früher oder später auf die Liebe. Und über die werde in Ägypten als etwas Übermenschliches gesprochen. „Da sowohl Beziehungen vor der Ehe als auch reine Liebesheiraten nur schwer zu verwirklichen sind, steigert sich die Imagination von Liebe in eine unglaubliche Grandiosität und ist deshalb auch so präsent im Alltag der Menschen“, weiß der Finne Schielke und erzählt von einem Dorfbewohner aus dem Nildelta, der eines Tages auf ihn zugekommen war und vertrauensvoll fragte: „Gibt es bei euch in Europa eigentlich auch Liebe wie bei uns?“
Im Land am Nil spricht die Liebe aber ihre eigene Sprache, für Ausländer noch schwieriger zu verstehen als für Ägypter selbst. Auch der 26-jährige Bankangestellte Ahmed Samir aus Kairo hat damit gerade seine Probleme. Sara heißt das Mädchen seiner Träume. An dem einen Tag warm und herzlich, am anderen kalt und unnahbar. Über Monate, klagt er, ginge das schon. Irgendwann wurde es dem Bankangestellten zu viel und er besorgte sich ein zweites Mobiltelefon, dessen Rufnummer er in seinem eigenen Mobiltelefon als ‚Sara‘ abspeicherte. Und manchmal, erzählt er, wenn er die Zuneigung seiner Liebsten besonders brauche, sende er sich in ihrem Namen einfach selbst eine Kurznachricht zu: 1 new message from Sara. „Teurer Ahmed“, liest er dann, „du fehlst mir so. Wann sehe ich dich wieder?“
„Das ist tuql!“, sagt Strohmenger. Tuql ist ein uraltes, insbesondere von Frauen praktiziertes Täuschungsmanöver und besteht darin, dem werbenden Mann Desinteresse vorzutäuschen wiewohl in Wirklichkeit verliebt in ihn zu sein. Zum einen demonstriert eine Frau mit tuql – das Wort bedeutet eigentlich „Schwere“ – sehr explizit ihren Anstand – „Ich bin nur schwer zu bekommen und kein leichtes Mädchen“ –, zum anderen testet sie das Vis-à-vis auf seine wahren Absichten und schließlich dient es auch dazu, das Begehren des Mannes zu steigern – was schwer zu kriegen ist, gewinnt an Wert. Der Mann indes muss sich davon, zumindest nach außen, unbeeindruckt geben, denn Anderes gilt als unmännlich und verliert an Reiz. Um die Sache weiter zu verkomplizieren, kommt hinzu, dass tuql – es dauert über Monate – erst dann funktioniert, wenn der andere darum nicht weiß: das vorgetäuschte Desinteresse, das möglicherweise ein echtes ist. ‚it-tuql san’a‘ – Tuql ist eine Kunst, sagt eine ägyptische Redewendung; das ständige Kommunizieren eines Vielleichts – und: ein Balanceakt, auf den sich ägyptische Frauen meisterhaft verstünden, so Strohmenger. „In dem einen Moment, wo sie dir eine Zigarette reichen, streichen sie dir wie zufällig über den Finger, und in dem Moment, wo du der Berührung hinterher schaust, zeigen sie dir die kalte Schulter.“ Tuql ist eine Pflicht für Frauen. Kompliziert, aber es funktioniert – und: ist kulturell überaus geschätzt.

Andere Geschwindigkeiten
„Die einzig legitime Form einer Beziehung für Kopten wie Muslime ist die Ehe“, sagt Strohmenger. „Was macht man in der Zeit davor? Gemeinsam in den Urlaub fahren – geht nicht. Eine Wohnung nehmen – geht nicht. Sobald es zum ersten Kuss gekommen ist, steht die Heiratsfrage am Tapet. Das ist der Grund, weshalb die Phase vom Zeitpunkt des Kennenlernens bis zu einem verbindlichen ‚Ich liebe dich‘ länger hinausgezögert wird als im Westen.“ Und das wirkt sich auf die Natur der Beziehung aus: „Erzähl mir doch ein bisschen von deinen Liebesbeziehungen“, wurde Strohmenger einmal von einem 27-jährigen Augenarzt aus Kairo gebeten. Als der Deutsche ihm berichtete, nickte der Augenarzt unaufhörlich mit dem Kopf und sagte: „Ja! Genau so war es bei mir auch!“ Strohmenger war irritiert und fragte ihn: „Was war genauso? Du hattest doch nie eine Beziehung!“ Worauf der junge Arzt von einer Frau zu erzählen begann, mit der er für die Dauer eines ganzen Jahres Blicke ausgetauscht hatte – innige, sehnende, kühle, zurückweisende Blicke: Alles war dabei, nur eine reale Begegnung nicht. „Als er mir aber beschrieb, was er dabei empfand“, schildert Strohmenger, „erkannte ich, dass er recht hatte. Er durchlebte exakt die gleichen Gefühle wie ich in meinen realen Partnerschaften – wenngleich er nur aus der Ferne.“

Halal-Schlupfloch
Doch nicht jeder gibt sich mit Liebe aus der Ferne zufrieden. Es gibt auch jene, die sexuelle Beziehungen leben, denn die Zahl derer, die ihre Liaisons durch die sogenannte Urfi-Heirat religiös legitimieren, steigt stetig. Eine Urfi-Heirat ist eine standesamtlich nicht-registrierte Eheschließung, die auf einem informellen Stück Papier und unter Anwesenheit zweier Zeugen eingegangen wird – ein Schlupfloch in der Religion, durch welches unzählige Verbindungen hinter dem Rücken der Familien geschlossen wurden. Seit den 1970er Jahren hat der religiöse Konservatismus in Ägyptens Gesellschaft zunehmend Fuß gefasst – bei Muslimen wie bei Christen. Gleichzeitig ist die Sehnsucht nach romantischen Zweierbeziehungen gestiegen. Ein Paradoxon? Nein, sagt Schielke, denn beide Religionen bieten Platz dafür und zudem, ergänzt sein Schweizer Kollege Kreil, kam es zu einer Banalisierung vieler religiöser Symbole in den letzten Jahren. „Vor kurzem etwa sah ich eine Frau mit einem Hijab, auf dem ein aufreizendes Pin-Up-Girl abgebildet war, darunter die Aufschrift ‚Please love me!‘“
Was bleibt, ist il-hubb – die Liebe. Auch wenn das Land schon lange mehr durch seine Politik als durch seine Liebe von sich reden macht, ist sie da. Kompliziert, aber immerzu, unentwegt, allerorts: Im Nildelta beim Dorfbewohner, der gefragt hatte, ob es im Westen Liebe wie in Ägypten gibt, beim unglücklichen Bankangestellten aus Kairo mit seinen zwei Mobiltelefonen oder aber bei der 21-jährigen Mona Sadek, die einmal meinte: „Niemand kann die Bedeutung von Liebe definieren. Ihre exakte Bedeutung. Niemand hat das je getan und niemand wird das je tun.“

Iris Mostegel (37), österreichische Journalistin, hat von 2006 bis 2012 in Kairo gelebt, wo sie zuletzt Produzentin des ORF-Korrespondentenbüros war. Heute lebt die studierte Arabistin in Wien.
Mail: imostegel[at]yahoo.com

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