Mubarak ist zurückgetreten, doch die Wirtschaft ist marode und die Armee so mächtig wie zuvor. Ein Ausblick auf das neue Ägypten des „Arabischen Frühlings“.
von Jasmin Elshamy
Freiheit, Brot und Würde! Das forderten die Ägypter lautstark vor knapp drei Jahren auf dem Tahrirplatz in Kairo, dem Platz der Befreiung. Ihr vornehmliches und gemeinsames Ziel, den Rücktritt ihres seit 30 Jahren amtierenden Präsidenten Husni Mubaraks, erreichten sie. Doch seitdem hat sich die Situation für die Ägypter in vielerlei Hinsicht verschlechtert. Sichtbar wird dies unter anderem durch die immer gleichen Szenen, die seit drei Jahren das Bild Ägyptens bestimmen: Demonstrationen, Aufstände, Straßenschlachten, mehr oder minder gewaltsames Eingreifen von Seiten des Sicherheitsapparates. Dies spricht aber auch dafür, dass sich etwas bewegt hat. Viele Ägypter sind nun ermutigt, sich zu organisieren und gehen für ihre Forderungen trotz widriger Umstände auf die Straße.
Seit einigen Monaten regiert in Ägypten wieder ein autoritäres Regime: Die Armee zieht die Fäden im Land. Die Militärherrschaft begann mit der Absetzung des ersten demokratisch gewählten Präsidenten des Landes, Muhammed Mursi. Ein Teil der Gesellschaft, überwiegend Anhänger der Muslimbruderschaft, sieht dies als militärischen Coup an, ein anderer Teil als zweite Revolution, einen militärisch gestützten Volksaufstand.
Freiheit und Würde
Die Armee zeigte sich nach der Machtübernahme – erneut, wie schon nach der ersten Revolution – von ihrer brutalsten Seite. Dabei ist unklar, ob sie eine Taktik verfolgt (die Radikalisierung ihrer Gegner, um die eigene Gewalt zu legitimieren) oder ob es sich schlicht um ad-hoc-Reaktionen handelt. Im Visier standen zunächst die Mursi-Unterstützer, die seit seinem Sturz fast täglich demonstrieren. Der Höhepunkt des militärischen Eingreifens war die gewaltsame Räumung zweier Protestlager, wobei in wenigen Tagen mehrere hundert Menschen zu Tode kamen. Es folgte die Inhaftierung tausender Muslimbrüder, das Verbot der Muslimbruderschaft und schließlich ein neues Demonstrationsgesetz. Dieses sieht die Anmeldung einer Demonstration drei Tage im Voraus vor – die Zustimmung muss der Innenminister geben, sofern er die öffentliche Sicherheit nicht in irgendeiner Weise bedroht sieht. Zudem erlaubt es den Sicherheitskräften, alle Mittel zur Auflösung eines Protestes anzuwenden, sollten sie die nationale Sicherheit gefährdet sehen.
Der Zeitpunkt dieses Gesetzes, beabsichtigt oder nicht, wirkt auch strategisch clever: nämlich kurz vor der Verlautbarung des neuen Verfassungsentwurfes, über den die Ägypter Mitte Januar in einem Referendum abstimmen. Inhaltlich sichert dieser Entwurf dem Militär weiterhin einen hohen Einfluss. So würde die Wahl sowie die Entlassung des Verteidigungsministers in den ersten zwei Legislaturperioden von der Zustimmung der Armee abhängen. Der Militär-Haushalt bliebe weiterhin unkontrolliert. Auch die bereits unter Mubarak stark kritisierte Möglichkeit, Zivilisten vor ein Militärgericht stellen zu können, sieht der Verfassungsentwurf vor. Andererseits garantiert er jedoch auch mehr Rechte als die vorherige Verfassung: Er würde beispielsweise den Staat dazu verpflichten, die Unabhängigkeit der Medien zu gewährleisten. Zudem sollen Frauen die gleichen Rechte wie Männern eingeräumt werden. Das Demonstra-
tionsgesetz, aber auch die neue Verfassung, riefen Unmut hervor. Liberale, die sich bereits seit Ende September 2013 als dritte Kraft neben Muslimbrüdern und Militär und gegen beide positionierten, veranstalteten Demonstrationen. Die Folge: Mindestens 22 Aktivisten wurden verhaftet, darunter prominente Gründer der Demokratiebewegung, die bereits 2011 aktiv die Revolution vorbereiteten. Damit ging das Militär erstmals auch gegen die Demokratiebewegung vor. Im Ägypten dieser Tage gilt in noch schärferen Maße, was auch unter Mubarak galt: Andersdenkende werden nicht geduldet, die Medien verbreiten die Sicht der Armee. Nach wie vor kommt es fast täglich zu Auseinandersetzungen zwischen Armee und Demonstranten, wobei es immer wieder viele Verletzte und Tote gibt.
Das Brot und das Leben
Insgesamt geht es dem Land wirtschaftlich wesentlich schlechter als vor drei Jahren. Dies wirkt sich unmittelbar auf das Leben vieler Ägypter aus. Die Touristen bleiben fern, womit eine der Haupteinnahmequellen wegfällt. Ausländische Unternehmen stellen ihre Produktion ein oder schließen gar. Dies hat zur Folge, dass die in Ägypten ohnehin sehr hohe Arbeitslosigkeit, die besonders junge Menschen betrifft, weiter anwächst. Aufgrund der steigenden Inflationsrate werden die Lebenshaltungskosten teurer. Kleinunternehmer und Straßenverkäufer haben besonders unter dem Nachfragerückgang zu leiden. Bereits vor der Revolution lebte fast die Hälfte der Bevölkerung in Armut: Zahlen der offiziellen ägyptischen Statistikagentur zufolge lebten im Jahr 2011 25,2 Prozent der Ägypter unter der Armutsgrenze, 23,7 Prozent nur knapp darüber. Dieses Jahr waren es bereits 26,3 Prozent, was bedeutet, dass 800.000 Menschen mehr von Armut betroffen sind, die Hälfte davon junge Menschen unter 30.
Also noch mal Revolution?
In diesem Kontext ist auch das Einfrieren von Geldern der Muslimbruderschaft kritisch zu sehen: Sie übernahm seit Jahren wohlfahrtsstaatliche Aufgaben und versorgte arme Menschen mit Nahrungsmitteln, kostenlosen Behandlungen, Arzneimitteln, Schulbüchern und weiterem. Der Staat ist derzeit kaum in der Lage, diese Aufgaben zu übernehmen. Zu der wirtschaftlich schlechten Lage kommt eine größere Unsicherheit auf den Straßen. Einerseits durch die Demonstrationen, Gegendemonstrationen und Eingriffe des Sicherheitsapparates, andererseits dadurch, dass Polizisten nach wie vor nur dann eingreifen, wenn sie es für angemessen halten. Übergriffe auf Frauen beispielsweise werden ignoriert.
Wenn man die Situation heute mit der von vor drei Jahren vergleicht, kann man durchaus davon ausgehen, dass ein Großteil der Bevölkerung nach wie vor unzufrieden ist. Vorrangig sind es die Muslimbrüder-Anhänger, die den Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten als einen Coup des Militärs ansehen und sich dagegen wehren. Aber auch die Anzahl von Menschen, die trotz Befürwortung dieser Machtübernahme der Armee kritisch gegenüberstehen, wächst. Nicht zu vernachlässigen ist außerdem die Gruppe der Arbeiter. Sie streiken in unregelmäßigen Abständen immer wieder, um Lohnerhöhungen durchzusetzen oder versprochene Bonuszahlungen zu erhalten. Auch hier greift die Armee meistens gewaltsam ein. Diese Gruppe zeigte schon 2011, was sie durch Streiks bewirken kann: Allein die Androhung eines Generalstreiks führte letztlich zur Intervention der Armee und dem Rücktritt Mubaraks. Auch die Armen hätten Gründe, erneut auf die Straße zu gehen, die jungen Menschen, die damals die Hauptinitiatoren der Revolution waren, ebenfalls: Ihre Lebensumstände haben sich verschlechtert.
Diesen Gruppen gegenüber stehen jedoch diejenigen, die die Herrschaft des Militärs befürworten. Diejenigen, die endlich Ruhe wollen und sich Stabilität wünschen, koste es was es wolle. Diejenigen, die sich nach einem „starken Mann“ sehnen, verkörpert in General al-Sisi. Andere träumen bereits von einer neuen Revolution und hoffen auf eine nachhaltige Überwindung der alten Eliten, der Generäle, ihrer Anwälte, Richter und Medien. Einen gemeinsamen Traum, eine einigende Vorstellung von der Zukunft Ägyptens gibt es nicht. Im Gegenteil, jeder hat seine eigene Vision von dem, was richtig ist und was Freiheit, was Islam, was Demokratie bedeutet. Zu beobachten ist aber auch eine Änderung im Bewusstsein vieler: Sie haben eine politische Meinung und treten dafür ein – sei es für al-Sisi, für die Muslimbrüder oder für einen dritten Weg. Solange die Bevölkerung nicht damit aufhört, immer wieder für ihre Rechte einzutreten – und das scheint sie sich seit Beginn der Revolution nicht mehr nehmen zu lassen –, wird es zumindest keinen Stillstand in Ägypten geben. Ob jedoch ein demokratischer Wandel folgen wird, bleibt abzuwarten.
Nachtrag: Die Verfassungswahl als erster Schritt zur Demokratiekonsolidierung oder als Vorstufe zu einer Militärdiktatur à la Mubarak?
Ende Dezember erklärte das Militär die Muslimbruderschaft, die als einzige starke Kraft zum Boykott des Verfassungsreferendums aufrief, zur Terrororganisation – nach einem terroristischen Anschlag, zu dem sich eine andere islamistische Gruppe bekannte. Dies erleichtert dem Militär, Anführer von Anti-Militärprotesten zu verhaften und sollte wohl vor allem derlei Demonstrationen und die Boykottaufrufe im Vorfeld der Verfassungsabstimmung eindämmen. Davon abgesehen wirkte sich diese Entscheidung wiederum vor allem auf die ärmeren Menschen aus, die von den zahlreichen Einrichtungen der Muslimbruderschaft profitierten. So wurden umgehend sämtliche ihrer Einrichtungen geschlossen, inklusive Krankenhäuser. Ersatz gab es nicht.
Die Abstimmung über die neue Verfassung machte eher den Anschein einer Zustimmungskampagne zu al-Sisis Politik. So bewarben Plakate nicht Inhalte, sondern seine Person. Eine vergleichsweise niedrige Wahlbeteiligung von 38,6 Prozent, zusammen mit Einschüchterungsversuchen von Seiten des Militärs im Vorfeld und der Unterdrückung anderer Kampagnen und Meinungen, spricht daher auch dafür, dass vor allem die Befürworter al-Sisis wählen gingen. Dies könnte auch das Wahlergebnis erklären, das mit seiner 98-prozentigen Zustimmungsrate stark an Mubaraks geschönte Wahlergebnisse erinnert. Offiziell ist somit der erste Schritt vom Militär gen Demokratiekonsolidierung unternommen – abzuwarten bleibt trotzdem nach wie vor, inwieweit die liberalen Teile der Verfassung, insbesondere Aspekte wie die freie Meinungsäußerung, umgesetzt werden. Tritt al-Sisi jedoch zur Präsidentenwahl an – was er vom „Wunsch des Volkes“ abhängig macht – und sollte er diese gewinnen, ist ein erneutes Abgleiten in eine Militärdiktatur oder zumindest ein anhaltendes Blutvergießen das wahrscheinlichere Ergebnis. Insbesondere angesichts dessen, wie das Militär seit seiner Machtübernahme agiert und dadurch wiederum den Widerstand eines breiten Teils der Bevölkerung schürt. Denn trotz aller Einschüchterungen, Masseninhaftierungen und Mediengleichschaltung: Noch immer haben sich die Ägypter die Straßen nicht nehmen lassen.
Jasmin Elshamy (28) hat Politikwissenschaft, Islamwissenschaft und Angewandte Ethik in Jena studiert. Sie schrieb ihre Abschlussarbeit über die Entstehungsgründe der Ägyptischen Revolution und arbeitet derzeit an einem Dissertationsexposé zum Thema Frauen und Revolution.
Mail: Jasmin.Elshamy[ät]googlemail.com
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