Studentische Protestkultur in Delhi

Nach der Vergewaltigung einer Frau in Neu-Delhi ist eine international beachtete Protestwelle durch Indien gerollt. Maßgeblich beteiligt an der Bewegung waren Studenten der Jawaharlal Nehru Universität. Zwei unserer Redakteure berichten vom Campus.

von Laser & Stephan Strunz

Delhi ist schon seit langem bekannt als „rape capital“. Dass über Vergewaltigungen und Mord an Frauen berichtet wird, ist, so verstört es klingen mag, für Zeitungsleser vor Ort nichts Besonderes. Aber die Gruppenvergewaltigung einer jungen Medizinstudentin am 16. Dezember 2012 war anders. Der Fall hat in kürzester Zeit Massen von Menschen auf die Straße gebracht. Auch deutsche Medien haben ausführlich über den Fall in Delhi berichtet. Eine entscheidende Rolle wird den Studenten der Jawaharlal Nehru Universität (JNU) in Süd-Delhi zugeschrieben.
Für den Neuankömmling ist die politische Kultur der JNU überwältigend. An deutschen Universitäten sind es vielleicht noch die jährlichen StuRa-Wahlen, die die müde Masse der Studierenden zumindest für ein paar Tage auf die Existenz von Uni-Politik aufmerksam machen. An der JNU hingegen kann sich sogar der politisch uninteressierteste Studierende den allgegenwärtigen Plakaten, Debatten und Protesten auf dem Campus nicht entziehen. Selbst Hungerstreiks sind keine Seltenheit.
Eine ähnliche Rolle wie der StuRa an deutschen Unis nimmt an der JNU die Jawaharlal Nehru University Students’ Union (JNUSU) ein, deren Mitglieder demokratisch gewählt werden. Und das Gremium wird gehört: Nachdem eine Zeitung am 17. Dezember 2012 über die Vergewaltigung berichtet, ruft die JNUSU direkt zu Protesten auf. Der Fall ist im Nachbarbezirk direkt neben dem Campus passiert, die Studierendenversammlung fühlt sich in der Pflicht, etwas zu tun. Wie Vikram – einer der Studenten, der vom ersten Tag an dabei war – berichtet, haben sich daraufhin viele junge Menschen an der Bushaltestelle versammelt, wo die Medizinstudentin in den Bus stieg, und sind daraufhin zur nächstgelegenen Polizeistation gelaufen. Er erzählt: „Viele unterschiedliche Menschen aus der Umgebung waren mit dabei, auch Frauenrechtsgruppen. Und die Polizei war unter großem Druck.“ Medienvertreter merkten schnell, dass die JNU eine wichtige Rolle spielt. „Am 18. Dezember“, so Vikram, „war der Campus voll mit Medien.“

Homogene Berichterstattung

Vikram ist aktiv bei AISA, der All India Students’ Association (einem Ableger einer kommunistischen Partei Indiens). Keine Organisation ist auf dem Campus so aktiv und hat so viele Mitglieder wie AISA. Diese Kraft zeigten die Mitglieder direkt am 19. Dezember, zwei Tage nach der Vergewaltigung, als sie vor dem Amtssitz der Ministerpräsidentin des Unionsterritoriums Delhi einen großen Protest organisierten. Sie prangerten die Unfähigkeit der Polizei an, wiesen auf die Unterdrückung der Frau hin. Aber die Gemüter der Protestierenden wurden damals nicht beruhigt. Im Gegenteil: Prügel und Wasserwerfer konnten die Wut nicht löschen, sie wurde eher weiter aufgeheizt. Ähnlich beschreibt es auch Sucheta, die bei AISA in leitender Position wie auch als gewählte Vertreterin bei der JNUSU entscheidend zur Mobilisierung beigetragen hatte. „Dieser AISA-Protest“, so Sucheta, „wurde mit viel Gewalt beantwortet. Und dann, nach dem dies in den Medien aufgegriffen wurde, ging es erst richtig los. Tausende von Menschen haben sich spontan an verschiedenen Orten Delhis versammelt. Und ‚Gerechtigkeit und Freiheit für Frauen’, unser Slogan, wurde ins Zentrum gerückt.“ Aber AISA wäre nicht die kommunistische Organisation, wenn der Protest nur darauf beschränkt geblieben wäre: Schnell haben die Mitglieder den Finger auf das indische System allgemein gerichtet. Dass die herrschende Klasse das zentrale Problem sei, predigen Vikram wie auch Sucheta mit voller Leidenschaft. Vikram geht noch einen Schritt weiter und erkennt in den wochenlang anhaltenden Protesten eine Krise der kapitalistisch motivierten, seit den 1990er Jahren liberalisierten Struktur der indischen Demokratie. Diese Meinung hingegen hat es nicht zu Prominenz in den Medien gebracht.
Sucheta hingegen schon. „Wir Frauen wollen unser Leben selbst bestimmen dürfen. Wir kämpfen gegen die Unterdrückung der Frau. Das sind unsere Anliegen.“ So wird sie im „Weltspiegel“ im Ersten Deutschen Fernsehen zitiert. Denn auch deutsche Medien haben sich für AISA interessiert und sie auf den Straßen begleitet. Nicht alle aber waren von diesem breiten Medieninteresse begeistert. Vikram berichtet von vielen JNU-Studenten, die von den ständigen Anfragen genervt waren. Die Berichterstattung war ihnen zu homogen. Oft habe man den Studenten nicht zugehört und nur nach Aufhängern für Geschichten gesucht, die sowieso schon geschrieben waren.
Auf dem Campus der JNU ist das linke Milieu vorherrschend. Die lange Tradition kommunistisch „regierter“ Studentenparlamente hatte ihr einst intern den Namen „dritte kommunistische Republik der Welt“ (damals neben China und der Sowjetunion) eingebracht. Anders als an den meisten indischen Universitäten spielt die konservativ-nationalistische ABVP (Akhil Bharatiy Vidyarthi Parishad, zu deutsch: All-indische Studentenpartei) eine untergeordnete Rolle, obwohlsie die größte Studentenpartei der Welt ist und normalerweise indische Campus dominiert.

„Solche Leute brauchen wieder Angst vor dem Gesetz“

In den englischsprachigen Leitmedien wurde sie im Zuge der Proteste meist im Zusammenhang mit Hooligan-artigen Ausschreitungen oder provokativen Statements ihrer Mutterorganisation RSS (Rashtriya Swamyamsevak Sangh; Nationale Freiwilligenorganisation) erwähnt. Ein prominentes Beispiel: Vergewaltigung sei ein Problem der Modernisierung, auf dem Land gebe es sie nicht.
Die linken Parteien auf dem Campus stempeln ABVP-Mitglieder gerne als unartikulierte, militante Hindu-Nationalisten ab. Santosh hingegen wirkt bei unserem Gespräch alles andere als unartikuliert. Er ist Mitglied des Kernkomitees der ABVP an der JNU. Ebenso wie Sucheta und Vikram sehen auch er und seine Parteigenossin Gayettri, Vize-Präsidentin von ABVP Delhi, die Proteste als politischen Ausdruck einer überparteilichen Jugendbewegung. Anders als die AISA-Mitglieder führen sie die Ausbreitung der Proteste nicht auf deren Engagement, sondern auf das des gesamten Studentenparlaments zurück. Warum in den Medien dennoch zumeist von AISA die Rede war, begründet Santosh folgendermaßen: „In Interviews gehen die Journalisten gezielt auf Funktionsträger der JNUSU zu, die hauptsächlich vom linken Flügel kommen. Aus diesem Grund hört man in den englischsprachigen Medien nur selten Positives von der ABVP.“ Die großen Zeitungen, sowohl national wie international, so Santosh weiter, würden Interviews zudem generell nur auf Englisch führen und somit systematisch die Stimmen derjenigen ausschließen, die nur Hindi oder andere Regionalsprachen sprechen. „Alles in allem ist es auch eine Frage der Macht“, meint Gayettri, „denn die intellektuelle Landschaft ist eben noch immer von Englisch regiert.“ Die ABVP versucht damit natürlich mit aller Kraft ihre eher marginale Rolle auf dem Campus zu stärken. Nichtsdestoweniger knüpft sie an eine wichtige Debatte an und protestiert legitim im Namen vieler sprachlicher Minderheiten.
In ihren konkreten Protest-Forderungen blitzt dann allerdings doch die erzkonservative Seite der Partei auf: Einstimmig fordern unsere ABVP-Interviewpartner mehr Sicherheit, Kontrollen und Polizeipräsenz auf den Straßen. Anstatt von strukturellen Ursachen zu sprechen, prangert Santosh die Gesetzlosigkeit der Vergewaltiger an. Konsequenterweise lautet daher seine Forderung: „Wir müssen dafür sorgen, dass solche Leute wieder Angst vor dem Gesetz haben.“ In diesem Sinne sei auch eine exemplarische Hinrichtung der Täter gerechtfertigt. Vergewaltigung sei ein generelles menschliches Problem, dass es in allen Gesellschaften gebe und das nur durch eine starke Regierung in den Griff zu bekommen sei.
Der gemeine Bewohner Delhis fragt sich seit Monaten, mit zig erklärenden Theorien im Gepäck, warum ausgerechnet jener Dezember-Vergewaltigungsfall eine derartige Öffentlichkeit erzeugen konnte. Ohne die enormen Mobilisierungskräfte des Campus – viele Studenten wie Vikram leben nahezu ausschließlich für die Politik – wären die Proteste in Delhi wahrscheinlich nicht mit der erlebten Geschwindigkeit gewachsen. Selbst Monate nach der Vergewaltigung ist die Wut noch nicht aus dem Campus-Alltag verschwunden. Der Protest geht weiter, auch ohne Medienpräsenz.

Stephan Strunz (23) studiert Regionalwissenschaften Afrika und Asien an der Humboldt Universität in Berlin. Zurzeit absolviert er ein einjähriges Auslandsstudium an der Jawaharlal Nehru University.

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