Kolumne: Pragmatisch

(Foto: Gina Pina)
(Foto: Gina Pina)

Einen Blick auf die pragmatischen Grußformeln im Englischen von Thomas Honegger, Professor für Anglistische Mediävistik an der FSU Jena.

»Guten Morgen«, sagte Bilbo, und er meinte es ehrlich. […] »Was meint Ihr damit?« fragte [Gandalf]. »Wünscht Ihr mir einen guten Morgen, oder meint Ihr, daß dies ein guter Morgen ist, gleichviel, ob ich es wünsche oder nicht. Meint Ihr, daß Euch der Morgen gut bekommt oder daß dies ein Morgen ist, an dem man gut sein muß?« (Der kleine Hobbit, S. 11).
Dieser kurze Dialog zwischen Bilbo und Gandalf führt den Zauberer als eine Person ein, die auch alltägliche Konventionen mit feinem Humor hinterfragt. Nun begegnen wir in unserem normalen Alltag nicht allzu oft Leuten, welche unsere kommunikativen Gewohnheiten und sprachlichen Routinen in Frage stellen – was uns erst (und dann oft massiv) in einer Fremdsprache widerfährt. Wie zum Beispiel begrüßt man jemanden in der fremden Sprache? Der deutsche Standardgruß ‚Guten Tag’ findet sich zwar eins zu eins im französischen ‚bonjour’ wieder, aber bereits im Englischen würde man mit ‚good day’ von der gängigen Norm abweichen und vielleicht von seinem Gesprächpartner mit Gandalf-ähnlichen Fragen konfrontiert werden. ‚Good day’ ist also in den allermeisten Fällen keine Option und man wird feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, für das scheinbar simple ‚Guten Tag’ ein vollwertiges Gegenstück zu finden. ‚Hello’, ‚good morning’, ‚good evening’ oder das für viele immer wieder verwirrende ‚How do you do?’ erfüllen je nach Situation die Funktion des deutschen Grußes. Letzteres hat seinen ursprünglichen Fragecharakter gänzlich verloren und funktioniert als ‚Spiegelgruß’, auf den der Gegrüßte gleichfalls mit einem ‚How do you do?’ antwortet – und ebenso wenig erwartet, dass er etwas über die Gemütslage seines Gegenüber erfährt wie der Erstgrüßer. Da die Fragefunktion keine Rolle mehr spielt, wurde diese Phrase konsequenterweise im amerikanischen Englisch auf ‚Howdy?’ gekürzt – was der sinnentleerten Anwendung der ursprünglichen Frage als Gruß im Grunde genommen besser entspricht als die im britischen Englisch noch erhaltene Vollform.
Dass die Handhabung dieser pragmatischen Rituale für Sprachlerner nicht immer ganz einfach ist, erfuhr ich am eigenen Leibe, als ich eine Stelle als Assistenzlehrer für Deutsch in Aptos, Kalifornien, antrat. Die fortgeschrittenen Schüler begrüßten mich in akzentfreiem Deutsch mit ‚Was ist los?’, was mich anfänglich ziemlich irritierte, bis ich erkannte, dass sie einfach ihren (eher umgangssprachlichen) Standardgruß ‚What’s up?’ wortwörtlich übersetzt hatten.
Leicht anders sind die Probleme in den Fällen gelagert, in denen Sprachen keine entsprechenden Phrasen kennen und in der Interaktionssequenz scheinbar eine Lücke klafft. Ein klassisches Beispiel ist ‚Guten Appetit’. In den meisten europäischen Sprachen gibt es einen Ausdruck, mit dem man üblicher Weise den Beginn der Mahlzeit signalisiert: ¡Buen provecho! Buon appetito! Bon appétit! Smakeljik eten! etc. Im britischen Englisch jedoch nicht. Wenn es denn sein muss, weicht man auf das französische ‚Bon appétit!’ oder die Neuschöpfung ‚Enjoy your meal!’ aus, aber normaler Weise geht man direkt zum Essen über.
Eine solche ‚Lücke’ bietet die Gelegenheit für sprachliche Kreativität. Wieso nicht ‚May this food make the hair on your toes grow thick and wooly!’ (für Hobbits – das dann zu ‚grow wooly’ abgekürzt werden könnte) oder ‚May this food make your ears even pointier’ (für Elben) etc. Ein etwas weniger extravagantes Beispiel fand ich in meinem asiatischen Lieblingsrestaurant. Eine Leuchttafel an der Wand wünscht allen Gästen guten Appetit und tut dies auch gleich in vier Sprachen: Deutsch ‚Guten Appetit’, Vietnamesisch ‚Chúc ân ngon’, Chinesisch (hier haben mich meine Transkriptionskünste verlassen) und Englisch mit der Neuschöpfung ‚a good taste’. In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern im neuen Jahr gute Gesundheit, einen gesunden Appetit und bei jeder Mahlzeit ‚a good taste’.

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