Das entfesselte Klavier: Portrait eines Stummfilm-Pianisten

Foto: Marvin David
Foto: Marvin David

Vor genau 85 Jahren begann der Siegeszug des Tonfilms. Doch wirklich „stumm“ sind Stummfilm-Aufführungen dank musikalischer Untermalung nie gewesen… bis heute nicht. Der Weimarer Pianist Richard Siedhoff begleitet regelmäßig Kinoklassiker live.

von David & Frank

Sonntagabend, kurz nach 20 Uhr. Während halb Deutschland vor dem Fernseher sitzt, um die neue Folge einer gewissen Krimiserie zu sehen, haben sich einige Dutzend Cinephile im Saal 1 des Weimarer Lichthaus-Kinos eingefunden, um einen Stummfilm zu schauen. Ganz still wird es jedoch nicht sein, denn ein Zeremonienmeister wird die Zuschauer durch den Abend führen: der Stummfilm-Pianist Richard Siedhoff.
Bereits mit sieben Jahren begann der gebürtige Weimarer, Klavier zu spielen, wenngleich nicht so sehr aus eigenem Antrieb: Sein Vater, ein Komponist für Theatermusik, drängte ihn zum Unterricht, wofür ihm Richard heute sehr dankbar ist. Kurz vor dem Abitur brach Richard den Unterricht ab: „Ich habe angefangen, frei zu spielen und zu improvisieren und konnte mich plötzlich frei entfalten.“ Sein Großvater nahm ihn in klassische Konzerte mit, wo er sich bei Beethoven, Schubert und Brahms als Klassik-unerfahrener junger Teenager noch gepflegt langweilte. „Aber plötzlich kam Schostakowitsch! Der hat mich total fasziniert“, erinnert sich der 25-Jährige: Sein Interesse für klassische Musik war geweckt. In seiner Freizeit begann Richard, Partituren zu lesen, zu studieren, nachzuspielen und eignete sich dabei viel theoretisches Wissen an, das ihm bei seinem späteren Musikstudium behilflich sein sollte.
Zu seiner Affinität für Musik gesellte sich fast zeitgleich ein zweites Hobby: Als sein Vater ihm Werke von Charlie Chaplin zeigte, entdeckte Richard seine Faszination für den Film und insbesondere den Stummfilm. Buster Keatons subtile Komödien faszinieren ihn seit jeher. Aber noch einschneidender beeindruckte ihn Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu – „ganz im Gegensatz zu der scheußlichen Synthesizer-Begleitmusik der TV-Ausstrahlung!“, erinnert sich Richard beifällig. Mit einem Kassettenrekorder ausgestattet, spielte er auf dem Klavier kurzerhand eigene Musik ein, um seiner Familie den Vampirfilm in einer besseren Version zeigen zu können. Das Resultat: „grottenschlecht!“, schmunzelt der Pianist heute – aber für den damals 15-Jährigen doch zukunftsweisend.
Nach dem Abitur wollte Richard „was mit Medien machen“ und begann in Leipzig ein Praktikum als Cutter beim Fernsehen. Dieser Arbeit wurde er trotz anschließender Festanstellung überdrüssig. Seinen Feierabend verbrachte er als Bar-Pianist in Leipziger Kneipen. Dort fand der junge Musiker sein „eigentliches“ Praktikum, denn er lernte, über Stunden zu improvisieren: „Ich bin ein ganz miserabler klassischer Pianist und ein schlechter Blattspieler“, gesteht er.
Richards Herz schlug nun wieder für die Musik, und er kehrte durch Zufälle nach Weimar zurück, wo er ein Studium an der „Hochschule für Musik Franz Liszt“ begann. Seine Vertonung von Nosferatu im privaten Kreise blieb kein einmaliges Ereignis und Richard begleitete in seiner Freizeit häufiger Stummfilme. Bereits 2006 hatte er seinen ersten öffentlichen Auftritt mit Fritz Langs Metropolis auf einem Sommerfest im Thüringer Hinterland mit einer freien Adaption der ursprünglichen Originalmusik. Im Sommer 2008 konnte Richard sein Debut schließlich als Vertretung für den kurzfristig abgesprungen Pianisten des Weimarer Mon Ami-Kinos in einem richtigen Kino wiederholen. „Ich hatte weniger Vorbereitungszeit, als der Film lang ist. Da saß ich nun am Klavier, vor der Leinwand und war tierisch aufgeregt.“ Der erfolgreichen Aufführung folgten 2009 vereinzelte Vorstellungen der großen Kino-Klassiker aus der Weimarer Republik im Mon Ami-Kino: Das Cabinet des Dr. Caligari, Die Nibelungen, Dr. Mabuse, der Spieler.

Der Sprung zum Weimarer „Haus-Pianisten“

Stummfilm-Musik war aber für Richard vor allem ein privates Hobby. Für seine Geburtstage hatte Richard sich stets etwas ganz besonderes vorgenommen: seinen Gästen einen Stummfilm zu präsentieren. Daraus wurde im Herbst 2009 eine öffentliche Aufführung von Buster Keatons The Cameraman im Weimarer Lichthaus-Kino. Der Saal war überfüllt, Publikum und Kinobetreiber gleichermaßen begeistert, und seitdem begleitet Richard als regulärer „Haus-Pianist“ Fritz Langs düstere Dystopien, Murnaus entfesselte Kamerawelten,
Eisensteins kühne Montagen, Keatons halsbrecherische Stunts und andere Klassiker im Monatsrhythmus.
Das tut er vor allem, weil es ihm Freude macht. Zwar wird er bei seinen Auftritten im Lichthaus-Kino, aber auch beim 16-mm-Kino in Erfurt oder im Jenaer Café Wagner an den Einnahmen beteiligt, seinen Lebensunterhalt kann er davon aber nicht bestreiten: „…dafür müsste ich mindestens einmal die Woche auftreten.“ Doch die Vorbereitung auf eine 70- bis 150-minütige Aufführung ist freilich zu umfangreich, um sie wöchentlich zu meistern, wenn man nebenbei studiert. Oft dauert es schon lang genug, bis Richard bei einem Filmarchiv eine authentische Filmkopie in guter Qualität auftreiben kann. Bis diese tatsächlich eintrifft, übt er mit dem entsprechenden DVD-Exemplar aus seiner umfangreichen privaten Filmsammlung. Schon bei der ersten Probe-Sichtung setzt er sich an die Tasten: „Ich sehe den Film viel aufmerksamer, wenn ich gleich dazu spiele. Ich muss dann beim Bild konzentriert dranbleiben und erkenne viel mehr Details.“
So entwickelt Richard in der Trainingsphase verschiedene Leitmotive: einige Grundthemen für den gesamten Film und verschiedene Melodien für einzelne Charaktere oder Abschnitte des Films, mit denen er inhaltliche Zusammenhänge schaffen kann, dazu noch Variationen. Einige Filme hat er fast komplett durchkomponiert, bei anderen spielt er nach einem Prinzip, das er „Konzept-Improvisation“ nennt: Er orientiert sich an Eckpunkten (etwa Szenenwechseln), zwischendurch aber improvisiert er, nur der emotionale Gehalt steht für ihn vorher fest. Problematisch ist es, wenn die Filmkopie (um-)geschnitten bzw. zensiert ist, was er oft erst bei der Generalprobe im Kino oder der Aufführung selbst merkt: „Wenn plötzlich Szenen fehlen, auf die ich mich vorbereitet habe, fehlt natürlich auch etwas in meiner musikalischen Dramaturgie. Dann ist man froh, wenn man anhand seiner Leitmotive improvisieren kann.“ Richard spielt ohne Blatt, weil er den ganzen Film „im Kopf“ hat. Hier kommt ihm seine Erfahrung als Cutter zu Hilfe: „Ich bin ein unglaublich optisch geprägter Mensch, achte auf Einstellungen, Szenenwechsel und Schnittrhythmus.“

Richard vs. Mickey Mouse

Bei einem Stummfilm können sich, so Richard, nicht nur die Bilder ungestört entfalten: „Die Musik hat ein viel größeres Potential, sich ohne störende Geräusche zu entwickeln.“ Das ist eine große Chance für jemanden, der einen Film instrumental vertonen will. Dafür steht eine ganze Palette an Möglichkeiten zur Verfügung. Richard kann etwa die Handlung illustrieren, indem er Verfolgungsjagden mit einem permanenten Rhythmus unterlegt; lautmalerisch kann er Kanonenschüsse oder Regen nachahmen. Dieses sogenannte „Mickey-Mousing“, das besonders bei Spiel- und Zeichentrickfilmen der frühen Tonfilm-Ära gebräuchlich war, setzt er aber eher spärlich ein. Für viel interessanter hält er die Illustration der Figurenpsychologie und der Grundstimmung: „Ich versuche, dem emotionalen Gehalt des Films zu folgen und ihn in der Musik zu transportieren.“ Damit wolle er auch eine Brücke zum Publikum schlagen, für dessen Sehgewohnheiten Stummfilme heutzutage oft fremd sind.
Das führt dazu, dass Richard einen Film nicht einfach „begleitet“, sondern auch mit seiner Musik ausdeutet: „Ich habe eine unglaubliche Macht, was das Publikum generell nicht merkt oder bewusst wahrnimmt. In gewisser Weise gebe ich dem Publikum eine Interpretation vor“, sagt er schmunzelnd. So kann er über Stimmungen oder Leitmotive andeuten, woran eine bestimmte Figur denkt. Scheinbar eindeutige Szenen kann er durch seine Musik wiederum ambivalent machen. Und er gibt jedem Film einen eigenen Stil vor: romantisch, jazzig, dissonant, beklemmend, melancholisch. Die düstere Grundstimmung von Fritz Langs Metropolis hat Richard in seiner eigenen Musikfassung etwa mit einem fast allen Motiven eigenen, dissonanten Moll-Akkord um ein vielfaches emotional verstärkt. Nichtsdestotrotz betont Richard, dass für ihn bei den Aufführungen der Film im Vordergrund steht, nicht die Musik: „Es gibt Leute, die spielen, um ihre Musik zu präsentieren, und der Film läuft so nebenbei. Das finde ich ganz fürchterlich. Denn der Film ist ein viel größeres Kunstwerk, als das, was ich mache. Da haben Leute teilweise Jahre mit Elan daran gearbeitet.“
Wenn also am Sonntag-Abend die letzte Filmrolle zu Ende ist und die letzten Klavier-Klänge verstummen, ertönt immer begeisterter Applaus aus dem Publikum in Richtung des Pianisten. Richard tritt vor die Zuschauer, verneigt sich kurz und deutet auf die nunmehr wieder komplett weiße Leinwand. Diese Geste der Bescheidenheit weist auf den wirklichen Star des Abends hin: den Film. Ein Star, dessen Charisma Richard tatkräftig unterstützt hat.

Im Rahmen des cellulique-Stummfilmabends wird Richard Siedhoff am Dienstag, den 27.11., ab 20 Uhr im Haus auf der Mauer (Johannisplatz 26) klassische und moderne Kurzstummfilme live vertonen. cellulique wird präsentiert von unique und dem Jenaer Kurzfilmfestival cellu l´art. Eintritt frei.

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