Aufgeschnappt: Heiko der Stadtführer

von gonzo

Heiko, 53 Lenze auf dem Buckel, wehende Schnapsfahne, schrundige Windjacke, betritt die vormittägliche Straßenbahn mit einem lauthalsigen Knaller: „Früher hieß die Nordschule ja noch Adolf-Hitler-Gymnasium!“ Emsig suchen seine deutlich gelb hinterlegten Augen das Abteil sogleich nach potentiellen Touristen ab.
Doch niemand scheint sich angesprochen zu fühlen. Wie ein Schwert schwingt Heiko seine Bierflasche über den Köpfen der Fahrgäste und verkündet unverdrossen: „Wisst ihr eigentlich, warum der Spittelplatz früher Spitalsplatz hieß?“ Um dann mit kaum verhohlenem Stolz fortzufahren: „Mein Vorfahre war ja bedeutender Pestarzt in Jena. Unterm Spittelplatz liegen bis heute so viele Pestleichen begraben, dass man hier in einem heißen Sommer noch immer die Verwesungsgase riechen kann!“ Heiko grinst lang und breit durch seine mahagonifarbenen Zähne, steckt voller nützlicher historischer Informationen: „Als Napoleon mit seiner Grande Armée auftauchte, versteckten sich viele Jenaer Frauen in Männerkleidern, um einer Vergewaltigung zu entgehen. Auch Ziegen und Kühe wurden wie Menschen bekleidet, um nicht als mögliches Mittagessen betrachtet zu werden.“
Er setzt sich auf den frei gewordenen Platz neben mir, leert sein Bier in einem Zug und beginnt schallend ein Martinilied-Cover zu singen: „Dar Jenzig steht scho’ seit Tausenden Jahr’, rabimmel, rabammel, rabatz! Dar Hanfried steht so seit Hunderten Jahr’, rabimmel, rabammel, rabatz! Doch ich weeß scho’ heut’ nich’, wo’sch gestern war, rabimmel, rabammel, rabatz!“ Und so fahren wir alle dahin.


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