Portrait: Lidjia Wartmann-Buratajewa und Svetlana Cholutaeva

Fast jeder im „Haus auf der Mauer“ und sicherlich zahlreiche Menschen in und um Thüringen kennen bereits die beiden aufgeschlossenen Kalmücken Svetlana und  Lidija. Doch was ist ein Kalmücke?

von bergi

Kein Problem, meistens reichen fünf Minuten, und Lidija hat dem geneigten Zuhörer bereits voller Eifer einen groben Abriss der kalmückischen Geschichte, Geographie und Lebensart, einschließlich ihrer persönlichen Erfahrungen und Beweggründe vermitteln können. Kalmückien ist eine autonome Republik in Südrussland, gelegen zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer. Seine Einwohner sind bekannt als Europas einzige buddhistische Volksgruppe und lebten lange Zeit als Nomaden in dieser Steppenlandschaft. „Für uns ist es wichtig, den interkulturellen Dialog zu fördern und dadurch Missverständnisse und Vorurteile abzubauen, die beispielsweise durch die verschiedenen Sprachen und Gebräuche entstehen.“ Dieses Engagment der beiden merkt man nicht nur beim Plaudern im Int.Ro-Büro, sondern vor allem an der Vielzahl von Projekten, die sie initiiert haben oder an denen sie teilnehmen. In den letzten Jahren organisierten sie Ausstellungen und kalmückische Märchenstunden in der Goethe Galerie, der FSU und FH Jena, zur Jugendwoche „Come Together“ in Saalfeld, an der Uni Erfurt oder im Völkerkundemuseum in Herrnhut. Von dieser Stadt gingen seit dem 18. Jahrhundert vermehrt Missionsversuche in Kalmückien aus. Im Mai dieses Jahres fand im Rahmen des Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs, der Jubiläen des Grundgesetzes und der deutschen Einheit eine Ausstellung im „Haus auf der Mauer“ statt. Außerdem repräsentieren sie die studentische kalmückische Hochschulgruppe in Jena, die immer wieder auch den Kontakt mit anderen ausländischen Studierenden sucht, „um Schranken abzubauen und sich gegenseitig zu helfen.“ Dazu gehört natürlich ein umfassender Vergleich der kalmückischen Sprache als Träger von Kultur und Traditionen mit anderen Sprachen, und dazu wiederum gehört auch eine tiefere Einsicht in das gesellschaftliche und politische Gefilde unseres Landes, den sich Svetlana beispielsweise während eines fünfmonatigen internationalen Praktikums im Bundestag verschaffen konnte. Schnell merkt man, dass für sie Dinge, die uns völlig normal erscheinen – zum Beispiel der hohe Frauenanteil unter den Abgeordneten, ein solides Grundgesetz und überhaupt das schriftliche Festhalten von Geschichte – von gro­ßem ideellem Wert sind. Gerade Letzteres ist ihnen ein großes Anliegen, da die kalmückische Geschichte kaum anders als mündlich überliefert wurde. „Geschichte ist immer subjektiv,“ geben sie zu. So vertritt die russische Regierung z.B. eine ganz eigene Interpretation der Ereignisse unter Stalin, so wie jeder einzelne Kalmücke auch. Im Zweiten Weltkrieg dienten fast alle männlichen Erwachsenen dieses Volkes an der Seite der sowjetischen Armee, bis am 28. Dezember 1943 sämtliche Kalmücken zu Kollaborateuren der Nazis erklärt und nach Sibirien deportiert wurden – zu „Arbeitszwecken.“ Während der 13-jährigen Verbannung war es ihnen teilweise verboten, Kalmückisch zu sprechen. Daraus resultieren bis heute Vorbehalte gegenüber der Sprache und der damit verbundenen Identität dieses Volkes. Natürlich existieren zu diesen Vorgängen keine Akten von russischer Seite, und eine offizielle Rehabilitation erfolgte nicht vor 1993. Lidjia, die während der Deportation zur Welt kam, hat ihre eigenen Erinnerungen an diese Zeit.  Doch die beiden bewahrten sich, wie die meisten ihrer Gemeinschaft, ihren Optimismus. Dabei helfen ihnen ihr Glaube und der Kontakt mit anderen Kulturen und Minderheiten. Sie sind äußerst neugierig und wissen z.B. – im Gegensatz zu mir – warum wir Pfingsten feiern oder wie genau der demokratische Alltag im Bundestag abläuft. Ziel ihres Engagements ist es, wie gesagt, das Verständnis für das Leben von Minderheiten zu verbessern und über die Geschichte aufzuklären. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist die Erarbeitung einer umfangreichen Dokumentation der Ereignisse, für die sie immer noch Mitstreiter suchen – gibt es ihres Wissens nach doch kaum mehr als zwei aktive Kalmücken auf einmal in deutschen Städten. Während der Ausstellung in der Goethe Galerie bekamen sie Besuch von einem älteren Herrn, der als Wehrmachtssoldat in Kalmückien stationiert war. Aufgrund einer Verletzung wurde er wieder in die Heimat geschickt und entging so wahrscheinlich dem Ende in einem sowjetisch-deutschen Massengrab. Heute spendet er einen Teil seiner Rente für eine ordentliche Bestattung der gefallenen Soldaten beider Seiten.  Die Begegnung war für ihn – wie für die beiden Kalmücken – ein wichtiger und aufwühlender Moment und laut Lidija „die ganzen Anstrengungen wert. Er soll wissen, dass wir ihn segnen.“ Bleibt zu erwähnen, dass jeder, der sich mit Lidjia und Svetlana unterhält, nicht nur viel Interessantes über die Kalmücken, sondern auch über seine eigene Kultur erfahren kann.


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