Bosnien zwischen ethnonationalistischem Irrsinn, Traumata und Lethargie: Eindrücke einer Studentin über ihr Geburtsland.
von Andrea Jonjic
Bosnien und Herzegowina – man denkt an Krieg, an ethnische Konflikte, an etwas weit Entferntes. Gern würde ich diese Konnotationen zurückweisen, sagen, „das ist 20 Jahre her, seitdem hat sich vieles verändert“. Leider kann ich das nicht. Leider habe ich mein Heimatland kennen gelernt, als es zu verfallen begann.
Ich wurde 1990 geboren, in einer Kleinstadt nahe Zenica. Meine Eltern waren beide berufstätig und bauten gerade ein Haus mit großem Garten. Dort wollten sie mich großziehen – ich wäre in der Stadt zur Schule gegangen, hätte nachmittags in den Wäldern gespielt.
Von dem Haus, das meine Eltern jahrelang bauten, stehen nur noch die Grundmauern. Durch wuchernde Gräser und Pflanzen führt ein kleiner Pfad zur Eingangstür – links und rechts ist das Gebiet vermint.
Die Häuserskelette sind für mich Symbolfiguren Bosniens geworden. Egal wo im Land man sich befindet, nach 100 Metern sieht man das nächste zerstörte Dorf, Bäume, die aus ehemaligen Wohnzimmerwänden sprießen, meist versehen mit einem lächerlich anmutenden Schild „Zu verkaufen“. Ich ertappe mich noch heute dabei, wie meine Gedanken bei diesem Anblick abschweifen, wie ich darüber nachdenke, wer dort gelebt, wer im Garten vor dem Haus gespielt hat. Wie ich wütend werde, vor allem aber verständnis- und ratlos, beim immer gleichen Anblick, der permanent an Krieg erinnert. Es sind nicht nur die zerstörten Häuser, die noch immer durchbohrten Gebäude, die Löcher der Granaten auf den Straßen, in denen sich das Regenwasser sammelt. Weitaus schlimmer als der äußerliche Verfall, der unaufhörlich voranzuschreiten scheint, ist das Denken der Menschen.
1994 flohen wir mitten im Krieg nach Deutschland. Da mein Vater gute Kontakte hatte, fand er sofort Arbeit und eine Wohnung, wir hatten keine größeren Probleme, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Ich lernte schnell Deutsch, ging in den Kindergarten, erinnerte mich nicht mehr an unsere Zeit in Bosnien. Einmal erschrak ich, als ein Krankenwagen vorbeifuhr und fragte meine Mutter, wieso wir uns diesmal nicht im Keller versteckten.
Grün, grün, grün ist mein Kunstrasen
Als ich zwölf Jahre alt war, erklärten mir meine Eltern, ich sei bosnische Kroatin. Das fand ich merkwürdig: Kroatin? Aber ich bin doch in Bosnien geboren? Weil ich katholisch sei. Bosnier seien muslimisch.
Diese Vermischung von Religion, Staatsangehörigkeit und Ethnien mutete mir seltsam an und ist wohl auch der Grund für Reaktionen wie: „Jugoslawienkrieg? Ach, das versteht doch keiner, wer da gegen wen gekämpft hat und wieso“. So obskur es klingt, so wahnsinnig ist es. Vor dem Krieg sei das in Jugoslawien nicht wichtig gewesen, sagen meine Eltern. Heute ist es das. Nachdem man sich jahrelang aufgrund konstruierter ethnischer Unterscheidungen bekämpfte und tötete, sind diese in den Köpfen der Menschen nicht etwa als gefährlich entdeckt und gelöscht worden, sondern dauerhaft gespeichert.
Anfang dieses Jahres besuchte ich meine Familie und Heimatstadt und sah mir bei der Gelegenheit die örtlichen politischen Parteien genauer an. Ich absolvierte eine Art Praktikum im Kreisbüro einer multiethnischen Partei, saß hauptsächlich am Laptop und lauschte den Geschichten der Menschen. Sie kamen im Fünf-Minuten-Takt auf dem Weg zum Markt oder zur Arbeit vorbei, aus Langeweile, zum Plaudern.
Einmal besuchte uns eine Frau, um uns ihre neue Bluse zu zeigen. Sie war grün. Hübsch, dachte ich. Aber in Bosnien ist Grün nicht etwa nur eine Farbe. „Grün? Wieso hast du sie nicht in Rot gekauft?“ Rot ist die Parteifarbe. Und weiter: „Also bitte, ich habe gestern einen kleinen Jungen gesehen, der kein grünes Kaugummi annehmen wollte – sogar der weiß es scheinbar besser als Du!“ Denn Grün ist die „muslimische Farbe”. Austrittserklärungen aus der Partei, die besonders bösartig wirken sollen, werden auf grünem Papier oder zumindest in grüner Schrift verfasst. Meine Cousinen lernten vor einigen Jahren in der Schule die Geschichte von Grünkäppchen. Als in Sarajevo ein Kunstrasenhersteller aus Werbegründen einen Bürgersteig grün färbte, gab es einen Aufschrei, die Stadt werde islamisiert. Eine unschuldige Farbe, instrumentalisiert für Religionsirrsinn.
Auch wenn viele Menschen, mit denen ich sprach, vor allem jüngere, beteuerten, sie machen keine Unterschiede zwischen den Religionen, ist das Kategorien-Denken doch ausgeprägt. Heiratet jemand, ist spätestens die zweite Frage die nach der ethnischen Zugehörigkeit des Partners. Jeder Einwohner muss sich einer Ethnie zuordnen. Die Kategorie „Andere“ bedeutet Roma, Sinti, Juden, Atheisten. Kategorisiert man sich selbst nicht, etwa bei Mitgliedsanträgen für Parteien, wird man nach Namen einer Religion zugeordnet. Selbst die multiethnische Partei, die ich besuchte, sah keinerlei Notwendigkeit, die Spalte „Nationalität“ – in der es die Ausprägungen „Muslimisch, Kroatisch, Serbisch, Andere“ gibt – abzuschaffen. „Das ist nun mal so“, war die beliebte Antwort auf mein verdutztes Nachfragen.
Meine Heimatstadt hat sich seit der Flucht meiner Familie kaum verändert. An jedem Gebäude, auf jeder Straße, in den Gesprächen der Menschen, in der Politik, überall zeigt sich der Krieg, der vor zwei Jahrzehnten ausbrach und seit 17 Jahren offiziell beendet ist. Er ist präsent in Diskussionen über heutige Missstände, eine Entschuldigung für den Status quo.
Stillstand in BiH
Bosnien und Herzegowina: Ein Siebtel der Fläche Deutschlands, ca. 4,5 Millionen Einwohner. Gespalten durch die Entitäten ‚Föderation Bosnien und Herzegowina‘ sowie die ‚Serbische Republik‘ im Norden des Landes. Nicht zu vergessen den quasi selbstverwalteten Distrikt Brčko im Nordosten, der dem Gesamtstaat untersteht. 160 Ministerien auf drei Ebenen, Korruption, dreiste Wahlfälschung, mehr als zwei Drittel aller politischen Parteien sind ethnisch fokussiert.
Ich frage mich, wie die Zukunft meines Heimatlandes aussehen wird. Natürlich, Sarajevo, Banja Luka, die Großstädte werden moderner, ziehen vor allem junge Menschen an. Doch außerhalb dieser Städte scheint es nicht weiterzugehen. Die Preise steigen, die Löhne und vor allem Renten sind gering. Demonstrationen gibt es selten bis gar nicht, weil die Konsequenzen gefürchtet werden. Die „Politiker“ sind verhasst, die Cafés ab neun Uhr morgens voll. Jeder weiß, was man verändern müsste, niemand unternimmt etwas. Parteien, die progressiv sein wollen, reproduzieren das aktuelle System, Forderungen nach Gleichberechtigung, nach Veränderung, werden belächelt.
Ja, das ist pauschalisierend, aber es ist das Bild, das sich mir präsentierte. Es ist das Bild, das ranghohe Politiker mir bestätigten. Ich habe viele beeindruckende Menschen kennengelernt. Viele, die mir unter vier Augen zugestimmt haben, die von radikalen Reformen träumen. Doch dabei bleibt es: Träume, die in den nächsten Jahrzehnten nicht umzusetzen seien. Eher werde es einen neuen Krieg geben, sagte man mir trocken. Stattdessen jubeln Kroaten und Serben, wenn ein bosniakischer Kriegsverbrecher festgenommen wird. Das dreiköpfige Staatspräsidium, welches die drei größten ethnischen Gruppen repräsentiert, diskutiert derweil, wann und von wem ausgehend die Belagerung Sarajevos begann. Die Einwohner der Serbischen Republik werden mit Propaganda vernebelt – bei den schlechten Zukunftsaussichten für Jugendliche und den niedrigen Löhnen könnte sonst Unbehagen aufkommen.
Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll und das macht mir Angst: die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage, die Resignation der Älteren, das Desinteresse der Jugend. Ich wünschte, die Kriegs-Blase würde endlich aufplatzen, sodass die Einwohner wieder klar sehen könnten, was um sie herum geschieht. Doch die Blase bleibt, und ich suche weiter nach einer Nadel.
Andrea Jonjic (22) studiert Politikwissenschaften und Jura an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sie kam 1994 mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie versucht einmal im Jahr nach Bosnien zu reisen; die anderen Staaten des ehemaligen Jugoslawien stehen derzeit noch als Ziel auf ihrer Reiseliste.
Blog: seditioni.com Mail: andreajonjic@gmx.de
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