Klaus Dörre, Soziologe an der Uni Jena, sprach mit uns über seine Erfahrungen als Wahlmann bei der vergangenen Bundesversammlung.
Herr Professor Dörre, Sie haben am vergangenen Sonntag als Wahlmann der Thüringer LINKEN an der Wahl des Bundespräsidenten teilgenommen. Hatten Sie Gelegenheit, die Kandidaten persönlich kennenzulernen?
Es gab die Möglichkeit, ich war allerdings bei dem Treffen am Abend vor der Wahl aus zeitlichen Gründen nicht dabei. Ich habe auch den Auftritt von Gauck in der Fraktion der LINKEN nicht erlebt, habe aber kurz mit Beate Klarsfeld sprechen können. Man hat allerdings schon vorher ein Bild, sodass das persönliche Kennenlernen da nicht entscheidend ist.
Können Sie denn verstehen, dass die Vertreter der LINKEN Herrn Gauck so ablehnend gegenüberstehen?
Ich hatte Herrn Gauck ja 2010 im dritten Wahlgang gewählt – gegen die Empfehlung der Fraktion. Ich habe das damals in der Fraktion auch begründet – ich bin ja parteilos und bin da sehr fair behandelt worden. Für mich war das damals ein Signal, eine andere Mehrheit für einen Kandidaten zustande zu bringen als die schwarz-gelbe. Das war für mich ein auschlaggebender Grund und ich bin auch weiterhin der Auffassung, dass Herr Gauck eine respektable Persönlichkeit ist.
Ich habe ihn diesmal nicht gewählt – und hätte das auch in den folgenden Wahlgängen nicht getan, aus mehreren Gründen: Erstens hat mir vieles von dem, was Herr Gauck seit seiner ersten Kandidatur zu wichtigen politischen Themen gesagt hat, nicht gefallen, etwa seine Aussagen zu Hartz IV, zur Occupy-Bewegung. Das sind substanzielle Punkte, zu denen ich auch als Wissenschaftler Position bezogen habe. In der Summe waren das Aussagen, die eher darauf hindeuten, dass er ein Freiheitsverständnis vertritt, das auch die Freiheit der Finanzmärkte und Finanzmarktakteure gegenüber den Kritikern betont. Das halte ich, angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Verwerfungen, für völlig unangemessen. Ich bin auch nicht sicher, ob er da dazulernen wird. Er hat zwar gesagt, er wolle ein „lernender“ Präsident sein, aber ich warte noch auf ein Zeichen.
Etwa in seiner Antrittsrede?
Ich war ziemlich enttäuscht von seiner Antrittsrede. Da war keine Geste gegenüber seinen Kritikern. Dafür gab es eine sehr gute Rede vom Versammlungsleiter Norbert Lammert, der das Datum der Abstimmung, den 18. März, in drei Etappen gewürdigt hat: erstens die deutschen Jakobiner und die Mainzer Republik, zweitens die Barrikadenkämpfe von 1848 und die Paulskirchen-Verfassung und drittens das wichtige Datum der ersten und einzigen freien Volkskammerwahl 1990. Mit dieser historischen Linie kann ich mich sehr gut identifizieren. Bei Gauck beschränkte es sich wieder auf die Volkskammerwahl – und die Barrikade von 1848 und die Verfassung der Paulskirche spielte bei Gauck überhaupt keine Rolle.
Ich hätte es auch gut gefunden, wenn er wenigstens einen Satz zu seiner Konkurrentin Beate Klarsfeld gesagt hätte, die einen nach wie vor verdrängten Teil der deutschen Geschichte thematisiert: die Kontinuität gegenüber dem Dritten Reich. Viele, nicht nur „Mitläufer“, aus der NSDAP kamen bekanntlich in Westdeutschland in hohe Ämter und Würden. Ich finde es sehr nachvollziehbar, sehr richtig und auch wichtig, dass Herr Gauck seine persönliche Identität aus der Bürgerrechtsbewegung schöpft, die die DDR verändert hat – wenngleich er auch am Anfang eher Mitläufer war als ein Protagonist. Aber als Bundespräsident die eigene Identität und das eigene Selbstverständnis nur auf diesen Punkt zu konzentrieren, finde ich ein bisschen wenig. Und ich bin sehr gespannt, ob er da dazulernen wird.
Dann gibt es einen letzten Punkt für mich: Frau Klarsfeld ist eine Frau. Wenn Sie sich die Ahnengalerie der Bundespräsidenten anschauen: Da gibt es nur Männer. Ich hätte es schon gut gefunden, wenn endlich mal ein weibliches Gesicht in diese Männerriege kommt. Das hätte sicher nicht Beate Klarsfeld als wirklich aussichtsreiche Kandidatin sein können, aber – um mal ein paar Namen zu nennen – etwa Frau Göring-Eckhardt, Frau von der Leyen oder Gesine Schwan, das wären für mich schon Kandidatinnen gewesen, die ich durchaus lieber als Herrn Gauck an der Spitze des Staates gesehen hätte.
Wie Sie schon angedeutet haben, war das ja nicht Ihre erste Bundesversammlung – auch 2010 waren Sie bereits dabei. Wie haben Sie den Kontrast zur vorherigen Wahl erlebt?
Es war wesentlich stressfreier! Das Ergebnis stand fest; alle gingen davon aus, dass Gauck gewählt wird, die Frage war nur: Wie viele Stimmen bekommt er, wie viele Stimmen bekommt Frau Klarsfeld – den Kandidaten der NPD rechnen wir mal nicht mit. Also war es nicht mehr so spannend wie beim letzten Mal, wo es schon ziemlich dramatisch zugegegangen war, mit vielen Fraktionssitzungen und zum Teil auch sehr kontroversen internen Debatten. Das alles ist diesmal nicht der Fall gewesen. Die LINKE hat gehofft, dass Frau Klarsfeld ein beachtliches Ergebnis erzielt – wobei das intern auch nicht unumstritten war, denn sie ist ja bekanntlich eine Konservative, die in Frankreich sehr klar für Herrn Sarkozy Position bezieht. Sie positioniert sich auch – was ich sehr gut finde – sehr eindeutig zu Israel. Da gibt es einige Linke, denen das nicht gefällt, weshalb nicht einmal sicher war, ob sie alle Stimmen aus der LINKEN bekommt. Insofern ist das Ergebnis, mit drei zusätzlichen Stimmen, sehr achtbar.
Dann war eben noch die Frage: Wie viele Stimmen bekommt Gauck? Ich würde mal sagen, das war ein leichter Dämpfer für ihn. Ich denke, er hat auf ein Ergebnis deutlich über 1000 Stimmen gehofft. Dass es dann doch 108 Enthaltungen waren, ist schon ein Signal, dass er sich einen bestimmen Kredit erst erarbeiten muss.
Abschließend noch eine Frage zur Zusammensetzung des Wahlgremiums: Sollten Ihrer Meinung nach mehr Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens bei der Wahl des Staatsoberhauptes beteiligt sein?
Ich kann nur für mich selbst sagen: Es war eine Geste von der Thüringer LINKEN, mich zu fragen. Das war für mich eine Ehre, ganz klar. Ich war bei der ersten Wahl ein bisschen anderer Meinung als die Partei, die mich vorgeschlagen hat. Bei der zweiten Wahl war ich das nicht. Ich glaube, andere sind da viel prominenter als ich, z.B. Sönke Wortmann für die Grünen, Senta Berger für die SPD oder die ehemalige Tennisspielerin Claudia Kohde-Kilsch, die in unserer Fraktion war. Die empfanden das genauso als Ehre wie ich und als Geste kann man so etwas schon machen – auch wenn ich glaube, dass das nicht entscheidend ist für diese Art von Wahl.
Ich habe auch klar gemacht: Nach diesem zweiten Mal ist Schluss. Als Wissenschaftler kann ich nur sagen: Man sollte solche Geschichten nicht permanent machen, weil sie doch bedeuten, dass man die Grenze zum politischen Handeln überspringt. Bei einem solchen Amt, das in erster Linie repräsentative Funktionen hat, kann man das mal machen, aber zu oft sollte man es nicht tun.
Herr Professor Dörre, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Frank.
Zur Person:
Klaus Dörre hat den Lehrstuhl für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der FSU Jena inne. Er ist Direktor des dortigen Instituts für Soziologie und seit 2011 Sprecher der DFG KollegforscherInnengruppe „Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung. Dynamik und (De-)Stabilisierung moderner Wachstumsgesellschaften“.
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