Inmitten der Karpaten, fernab jedweder Zivilisation
von ture
Zwischen diesem Buchenholz, inmitten der Karpaten, fernab jedweder Zivilisation – meine Blindheit hätte mich fast umgebracht.
Meine Erinnerungen an die Zeit verblassen schnell. Die letzten Jahre hatte ich gelernt, mich vollkommen meiner Gleichgültigkeit hinzugeben. Ohne Arbeit pflegte ich, in meiner Passivität ertrinkend, die Tage an mir vorbeiziehen zu lassen. Viele Finger zeigten auf mich: ich sei ein psychisches Wrack. Doch tröstend hoffte ich, diese Zeit würde ein nahrhafter Boden für meine unaufhaltsam näher rückende Zukunft.
Es kam anders als erwartet. Die zuständige Arbeitsvermittlung drohte erpressend, mich in einer ABM unterzubringen, mir alle Leistungen zu entziehen. Ich bin ja nicht wählerisch oder so, aber ich konnte mich mit diesen aufgebundenen Erwartungen an meine neue Zwangszukunft nicht abfinden. Ich ließ mir kurzerhand ein Bein brechen. Ich sagte zu Dirk: „Dirk, wenn ich sage ‚jetzt‘, schlägst du zu.“. Das liegt mehr als ein halbes Jahr zurück, und obwohl es gesplittert war, ist es gut verheilt.
Zwischen diesem Buchenholz, inmitten der Karpaten, fernab jedweder Zivilisation – hier sitze ich nun, mitten im Nirgendwo.
Wie widersetzt man sich dem Ruf der unverzeihlichen Natur nach der Seele eines jeden, ohne Schokoriegeln und Instantessen bewaffneten Wanderers? Vaclav kennt die Antwort. Seine gut zahlenden Kunden sind zumeist wohlhabende Westeuropäer, welche durch seine Überlebenskurse zurück zu ihrem animalischen Selbst finden möchten. Zwei Touren durch die slowenischen Karpaten waren geplant.
Vaclavs Anruf war ein Lichtblick gegen das Aufwachen in der Einöde vergangener Monate, der gleichen langweiligen Wohnung, der gleichen langweiligen Stadt mit den gleichen langweiligen Menschen. Viel wichtiger: es war eine Chance, das Erlebte aufzuarbeiten. Mit meinem übrigen Vermögen, 400 € in der Hand, stieg ich in den Zug – eine Einzelfahrt Richtung Osten.
Zwischen diesem Buchenholz, inmitten der Karpaten, fernab jedweder Zivilisation – hier sitze ich nun, mitten im Nirgendwo. Verirrt.
Schweißgetränkt fiel die Kälte langsam über mich. Vor mehr als neun Stunden hatte ich die Gruppe verlassen. Ich muss zugeben: Es war nicht das erste Mal, dass ich mich verirrt hatte. In jedem Wald in Deutschland wäre das wohl kein Problem gewesen. Du läufst einfach immer geradeaus und nach spätestens drei Stunden stößt Du auf ein Feld mit Strohballen, manchmal auch ein Maisfeld. Erneut wagte ich einen Blick auf die Karte – das schafft Vertrauen im Reisenden. Die Karte wirkt familiär, doch oft vergisst man, dass sie doch nichts mit der bereisten Umgebung zu tun hat. „Die Karte ist nicht das Territorium“ stand mal in irgendeinem Buch. Und wahrlich trifft das nicht nur auf meine Irrfahrt durch slowenische Wälder zu, sondern ebenso meine ganze Wirklichkeit. Stundenlang war ich in einem überraschenden Freiheitsrausch umhergeirrt, hatte alles vergessen und ignoriert. Vaclav und die Gruppe würden den Abend im ersten Lager verbringen und erst morgen früh zurückgehen, um Hilfe zu holen.
Zwischen diesem Buchenholz, inmitten der Karpaten, fernab jedweder Zivilisation – streichen meine Füße über den dornigen Waldboden. Und während ich hier sitze und schreibe, dämmert es langsam.
Je mehr ich versucht hatte, auf den Weg zurückzufinden, desto mehr hatte ich mich verirrt. Nachdem die Vermutung aufkam, ich würde die zuständigen Leistungsträger betrügen, war es nur eine Frage der Zeit, bis es mit meinen teilnahmslosen Lebensstil zu Ende gehen würde. Der Bescheid kam, eine Aufforderung über die Rückzahlung aller erfolgten Leistungen der vergangenen Monate und die sofortige Einstellung staatlicher Unterstützung. Ich sah es als das Ende meines bundesbürgerlichen Lebens. Die Zuspitzung all dessen, was sich über die Jahre angebahnt hatte. Meine Passivität war bedroht. Der wachsende Druck hatte mich soweit in eine Ecke gedrängt, dass sich eine neue Tür öffnete und mir die Freiheit ihre Hand entgegenstreckte. All die Schwere, welche meine Gleichgültigkeit der letzten Jahre so gut genährt hatte, glitt von mir. Ich sah erstmals wieder Konturen meiner Existenz. Ein neuer bester Freund, eine Welle von Euphorie lies mich träumen. Ich würde einfach als Landstreicher umherziehen, ungebunden an jeden, jede Tätigkeit, eines jedes Mensch. Ich würde keinen Widerstand leisten, sondern mich den Gezeiten des Lebens hingeben.
Und so folgte ich dem Ruf der Karpaten. Ohne nachzudenken im Trance meines neuen Lebens rannte ich losgelöst durch slowenische Wälder. Aber es kam anders als erwartet – es kommt immer anders als erwartet. Die Vernunft hat mein Gehör gefunden. Es heißt nicht mehr Freiheit leben, sondern sie zu überleben. Nun war ich einer der Wanderer, ohne Schokoriegel und Instantnahrung, verirrt, irgendwo in slowenischer Wildnis.
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