Zum Gottesdienst in die Mall
Kapitalismus als Ersatzreligion?

von Lutz

200 Jahre ist es mittlerweile her, als das Zeitalter der Aufklärung das Denken der Menschen in den westlichen Gesellschaften revolutionierte. Sie bezeichnet die Abkehr vom Glauben von als Autoritäten angesehenen Institutionen wie der Kirche, was Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft“ so einprägsam wie unverblümt mit dem legendären Ausspruch „Gott ist tot!“ zum Ausdruck brachte. Doch die Konsequenzen der Durchsetzung der (Natur-) Wissenschaften gegen die religiösen Anschauungen hinsichtlich der Erklärung lebensweltlicher Phänomene reichen weiter. Die Aufklärung hinterfragt sämtliche Wertsysteme wie Kulturen, Philosophie und eben Religion mit der Konsequenz, die Sicherheiten und Institutionen jener Menschen zu zerstören, die sich und ihr Leben Jahrhunderte lang an ihnen orientierten konnten. Einzig am materialistischen Kapitalismus als letzten ideologischen Rettungsanker scheint sie sich bisher die Zähne ausgebissen zu haben.

Der Mensch tritt aus dem exklusiven Kollektiv der Gläubigen oder der Staatsangehörigen hinaus, wenn er individuell in der ideologisch emanzipierten und globalisierten Welt seine eigenen Wertmaßstäbe ausprägt. Mit dem Auseinanderbrechen der Gemeinschaft der Masse, die so oft als Brutstätte des Bösen angesehen wird – wenn man ganz plakativ das Beispiel Nationalsozialismus und in ihm die Organisationen der SA und SS heranzieht – geht eine Individualisierung der Menschen in den westlichen Gesellschaften einher, die mit der „Jeder ist sich selbst der Nächste“-Mentalität zur Entfremdung der Menschen voneinander führt. Jeder verwirklicht sich selbst oder versucht es zumindest und der Abbau – um nicht zu sagen: Verlust – zwischenmenschlicher Solidarität und Hilfe scheinen die unwiederbringlichen Opfer zu sein. Wer Erfolg haben und Karriere machen will, muss zwar nicht über Leichen gehen, aber moralische Prinzipien meist hintenan stellen.

Es stellt sich die unbequeme Frage, ob der westliche Mensch zum Funktionieren der Gesellschaft eine neue, zeitgemäße Ideologie braucht, an der er sich orientieren und an die er glauben kann. Lange dachte man, sie im Kapitalismus gefunden zu haben. Die omnipräsenten und omnipotenten Medien konstruieren unsere Realität und die Werbung vermittelt uns, was wir essen und anziehen oder wie wir unsere Wohnung einrichten sollen. Es hat nichts mit Schwarzmalerei oder philosophischen Verfolgungswahn zu tun, wenn man Kapitalismus als die etablierte Ideologie der postmodernen Gesellschaft begreift, die nur noch zitieren und kopieren, aber nicht mehr erfinden kann. Diese Tatsache wird von uns, die wir fleißig konsumieren und nicht reflektieren, hingenommen. Die Reizüberflutung und der Boom an Ästhetik mündet in einer An-Ästhetik: unserer Empfindungslosigkeit gegenüber den Dingen, die wir schön finden sollen. Ein Beispiel aus der Praxis: Warum befinden sich acht Textilfachgeschäfte, die allesamt mit attraktiven Menschen oder grellen Farben werben, in der Goethegalerie? Die Vielfalt des Angebots ist der Vielzahl gewichen, eine Wahlmöglichkeit wird dabei nur vorgetäuscht, weil sowieso nur Standardisiertes verkauft wird. Die Politikverdrossenheit des westlichen Menschen, der den Glauben an seine Stimme verloren hat, wurde ersetzt durch seine Entscheidungswilligkeit bei dem, was er sich kaufen will. Die politische Wahl weicht zusehends der des Konsumgutes. Die Reizüberflutung durch die Mediengesellschaft und durch die Werbung führt zu einem neuen „Glauben“ fernab von klassischen religiösen Überzeugungen: dem Glauben an die Shopping Mall, der Kathedrale des Konsums.

Mit der Bankenkrise jedoch, welche den Kapitalismus in seinen ersatzreligiösen Motiven, die gleichzusetzen sind mit dem System der Angebot und Nachfrage und dem Gebot des Geldes, wird an der Unumstößlichkeit und Beständigkeit dieser Institution kräftig gerüttelt. Es scheint durchaus nahe zu liegen, dadurch eine zweite Aufklärung, die Macht des Kapitalismus ebenso wie seinerzeit die Macht der Kirche stark beschränkte, herauf zu beschwören. Und das eigenwilligerweise durch den Verstoß gegen jene Eigenschaft, welche im Kapitalismus den Starken gegen den Schwachen triumphieren lässt: den Materialismus. Nicht reales Geld, welches mit der Ware getauscht wird, führte zum Zusammenbruch dieses Systems, sondern virtuelles. Man handelte mit Krediten und Geld, welches (noch) gar nicht existierte und vielleicht auch nie existieren wird. Der Konsum, die Einverleibung von Waren, wird somit zur letzten verlässlichen Instanz einer Ellbogen-Gesellschaft, dessen Akteure sich nur dann miteinander vertragen, wenn sie konsumieren können.

Vor über 2000 Jahren wurde ein Mensch geboren, der die Welt erklären konnte und den Menschen nach seinem Tod Sicherheit gab. Dass das Christentum heute immer noch trotz zahlreicher bekennender Atheisten besteht, zeugt von seiner Konstanz und der Unangreifbarkeit als Institution. Wollen wir hoffen, dass im Kapitalismus auch einmal jemand oder etwas für unsere Sünden stirbt. Und wollen wir hoffen, dass wir es nicht selbst sind.


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