Am Ende kommen Christen
Zu Besuch in einem evangelischen Gottesdienst

von Jenny

Streicht man als Kind mit den Fingern über die gesammelten Werke von Marx und Engels im heimischen Bücherschrank, erweist sich eine solche Prägung womöglich Jahre später als Fluch und Segen zugleich. Da wächst man unwillkürlich atheistisch auf, gerät die marxistische Weltanschauung gar zur Muttermilch, doch ein Problem lässt sich nicht ignorieren: Man wurde zu spät geboren. Zu spät, um den real existierenden Sozialismus bewusst zu erleben und das eigene Ideal in Trümmern zu sehen. Aus Trümmern lässt sich wenigstens etwas neu erschaffen.

Nein, aufgewachsen in den nicht ganz so blühenden Landschaften, dem postsozialistischen Kapitalismus der Neuen Bundesländer, will der historische Materialismus als Welterklärungsmodell nicht mehr recht einleuchten. Da steht man nun als Teenager und wundert sich über den Sinn des Lebens, sucht eine nachvollziehbare Erklärung für das Dasein. Denn warum soll man auch erhobenen Hauptes in die Zukunft schreiten, wenn das Jetzt zu kompliziert scheint, um sich einen Reim daraus zu machen?
Die Weltrevolution unterliegt schnell dem Ausschlussverfahren, doch ebenso unrealistisch wirkt das Vertrauen auf eine transzendente Macht, auf das wie auch immer geartete Wort Gottes. Man kann also weiter leben, sich nicht weiter darum scheren und allein auf einen eng definierten Moralkodex setzen, um im täglichen Leben mit gutem Gewissen entscheidungsfähig zu bleiben. Oder man ist verzweifelt und führt einen Religions-Check nach dem anderen durch. Man vergleicht das Gottesbild, ethische Vorstellungen, alltägliche Rituale, die generelle Tauglichkeit in der Moderne – bis hin zur bedeutenden Frage „Gibt es ein Alkoholverbot?“. Doch am Ende steht einem stets ein unüberwindlicher Brocken im Wege: Als Verstand kann man ihn bezeichnen oder als ein undefinierbares Bauchgefühl. Wenn ein Arzt mit seinem kleinen Hämmerchen gegen das Knie schlägt und der Unterschenkel hervor schnellt, passiert etwas ähnliches. Fast schon ein Reflex ist die automatisierte Skepsis an allen Dingen, in denen ein überirdisches, den Naturgesetzen enthobenes Etwas eine Rolle spielt.

Als letzter verzweifelter Ausweg bleibt einzig die direkte Erfahrung. So wird das Kirchentor durchschritten in der Hoffnung auf eine Priese der Erhabenheit gelebter Religion in der Gemeinschaft. Für erhabene Momente sind Gotteshäuser wie geschaffen und auch das – in diesem Fall evangelische – Prozedere lädt dazu ein. Von der quietschenden Holzbank über die niederschmetternde Orgelmusik zur würdevoll verhallenden Stimme der Pfarrerin, die irgendwo am anderen Ende der Kirche auf ihrer Kanzel steht, scheint alles von Jahrhunderten der Wiederholung durchsetzt. Steif, alt und sehr ernst ist das ewige Aufstehen, Beten, Hinsetzen. Das einzige Lächeln schenkt einem die Banknachbarin, als sie verwirrt nach dem nächsten Lied im Gesangsbuch sucht.

Die quasi angeborene Fremdheit lässt den unbeteiligten Beobachter nicht los, denn es ist eine düstere, scheinbar schuldbeladene Würde, welche auf das Langhaus herabsinkt. Um alle Klischees zu bedienen, wird dem Zuhörer das potenzielle Vergessen der Bibel, der Lehre Jesu, vor Augen geführt, als würden damit Ethik und Moral, ja, die Menschlichkeit selbst aus der Welt verschwinden und von Barbarei und Habgier ersetzt werden; als schließe organisierte Religion deren Aufkommen aus. Von Minute zu Minute steigt somit der Widerwille, während die gesetzten Stimmen der Anderen im Chor das Glaubensbekenntnis aufsagen, den Kopf vor dem Altar geneigt. Den Blick gesenkt ist der Unterschied zwischen Einkehr, Respekt und Einschüchterung nicht klar auszumachen. Die viel beschworene Liebe Gottes ist hier jedenfalls nicht anzutreffen. Stattdessen lastet auf dieser verspannten Feierlichkeit der Eindruck einer Beerdigung.

Vielleicht bleibt für den ignoranten Außenstehenden die Wirklichkeit des Glaubens ein Buch mit sieben Siegeln. Sie spielt sich im Kopfe eines jeden Protestanten, Katholiken oder Buddhisten anders ab. Der insgeheime Neid verblasst jedoch erheblich, nachdem erst einmal das Abendmahl begonnen hat und eine Flucht aus der Kirche nicht mehr auffällt. Aufgefangen von der kühlen Herbstluft und dem blauen, wolkenlosen Himmel verhilft ein tiefes befreites Durchatmen zu der folgenden Erkenntnis: Wer seinen Unglauben bestätigt sehen will, sollte einen Gottesdienst aufsuchen. Schon scheint der Instinkt keine Last mehr zu sein, kann der Zwang zur Eigenverantwortlichkeit als Chance gesehen werden. Selbst wenn der Sinn des Daseins selbst geschaffen werden muss, wenn der Mensch nur seine Existenz ist, drängt sich der Hoffnungsschimmer auf, dass auch der Atheismus ein Humanismus sein kann.


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