memorique: Die grausame Geschichte der Regenbogennation

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Im Mai 1994 wurde Nelson Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas gewählt. Mit Hilfe der Wahrheits- und Versöhnungskommission entstand ein neuer Staat. Aber kann Vergangenheitspolitik einem Land den Frieden bringen?

von Philipp

Schon 1974 verurteilten die Vereinten Nationen die Apartheid in Südafrika als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Aber es sollte noch fast zwei Jahrzehnte dauern, bis die ersten freien Wahlen in Südafrika stattfinden konnten. Ausnahmezustand, Gewalt und Aufstände prägten diese Jahre. Die Apartheid (Afrikaans für „getrenntes Leben“) war die bestimmende gesellschaftliche Kraft Südafrikas im zwanzigsten Jahrhundert, aber ihre Wurzeln reichen zurück bis zur ersten europäischen Besiedlung des Kaps 1652. Nachdem das heutige Südafrika über Jahrhunderte von Niederländern und Engländern beherrscht wurde, erlangte es 1910 als Südafrikanische Union die Unabhängigkeit. Sexuelle Handlungen „zwischen den Rassen“ wurden verboten und alle, die nicht weiß waren, wurden politisch und wirtschaftlich diskriminiert. Die „Rassen“ lebten fortan getrennt voneinander und durch restriktive Gesetze kam es jährlich zu tausenden politischen Verurteilungen Nicht-Weißer. Nachdem die Apartheid 1992 nach jahrelangen massiven Kämpfen überraschend durch einen mehr oder minder geordneten Übergang beendet worden war, wurde Nelson Mandela der erste schwarze Präsident Südafrikas. Er setzte die Truth and Reconciliation Commission (zu dt.: Wahrheits- und Versöhnungskommission, WVK) ein und machte den Friedensnobelpreisträger und Erzbischof Desmond Tutu zum Vorsitzenden.

Ein Berg an Aufgaben

Die Kommission wurde unter einer Lawine völlig unterschiedlicher Aufgaben begraben: Sie sollte die nationale Einheit befördern, den neuen Staat legitimieren und zum nation building beitragen, also den verschiedenen ethnischen Gruppen das Gefühl vermitteln, sie seien eine gemeinsame Nation. Außerdem war es an ihr, dem Schicksal Vermisster nachzuspüren, weitere Menschenrechtsverletzungen durch Aufklärung zu verhindern und die menschliche Würde der Opfer wiederherzustellen. Es wurde aber auch erwartet, dass das Gremium eine umfassende Untersuchung über die Gründe, die Natur und die Ausmaße der Menschenrechtsverletzungen seit 1960 erstellt. Dazu zählten Verbrechen des Staatsapparats – aber auch Gewalt der Oppositionellen. Um Täter zu einer Aussage zu bewegen, sollte die WVK ihnen Amnestie gewähren. Zur Enttäuschung vieler Schwarzer sollte aber nicht der per se gewalttätige Charakter der Apartheid angesprochen werden – und tatsächlich blieb das große rassistische Verbrechen weitgehend im Dunkeln.
Um die Kommission zu legitimieren, wurde sie aus Personen verschiedener Gruppen zusammengesetzt: Politisch, ethnisch und religiös sollten sich alle in dem Gremium wiederfinden können. Aber entgegen dieser religiösen Vielfalt gab ihr der Vorsitzende Tutu einen klaren christlichen Anstrich, in dem er immer wieder den zentralen Stellenwert der Versöhnung betonte und sich damit klar exklusiv christlicher Moral bediente. Denn weder der Islam noch die afrikanischen Stammesreligionen sehen in der Versöhnung einen wichtigen religiösen Wert.

Quotenhit Apartheid

Es war der WVK wichtig, dass möglichst viele Personen am Prozess der Versöhnung und am nation building teilnehmen konnten. Deshalb wurden ungefähr 50 öffentliche Hearings veranstaltet – Großveranstaltungen in Hallen oder unter freiem Himmel, bei denen sowohl Opfer als auch Täter in emotionalen Berichten schilderten, was sie erlebt oder getan hatten. Diese Veranstaltungen fanden in ganz Südafrika verteilt statt, sodass daran mehrere zehntausend Menschen als Zuschauer teilnehmen konnten. Um die 2.000 Menschen offenbarten dabei ihre Geschichten – allerdings wurden sie nach politischen Kriterien ausgewählt: Erzählen durfte, wer mit seiner Geschichte in den Augen der WVK zum Zweck des nation building beitragen konnte. Es ging um Entführungen, Misshandlungen, Folter und Morde – aber eben nur um jene Verbrechen, die von Staatsdienern oder Angehörigen der Protestbewegung begangen wurden. Diesen Tätern wurde Amnestie gewährt – jenen Verbrechern hingegen, die „einfach so“ aus rassistischen Gründen gewalttätig gewesen waren, wurde die Begnadigung verwehrt. Über 1.500 Amnestieanträge wurden gestellt und mehrheitlich auch bewilligt – gleichzeitig kam es zu über 20.000 Opferaussagen. Die Arbeit der Kommission war sehr populär; die sonntags im Fernsehen ausgestrahlten Berichte über die Arbeit der WVK waren immer Quotenprimus. Auch die Radiosendungen hatten enormen Erfolg, was umso wichtiger war, denn das Radio war in den späten 1990er Jahren dasjenige Medium, was die weiteste Verbreitung hatte.

Modellfall Südafrika?

Die südafrikanische WVK gilt weltweit als die erfolgreichste Kommission zur Aufarbeitung verbrecherischer Vergangenheit. Weltweit gab es auf fast allen Kontinenten schon ungefähr ein Dutzend solcher Kommissionen. Bei ihrer Arbeit geht es immer auch um die Schaffung eines stabilen Friedens, nicht nur um fachhistorische Aufklärung. Doch systematische Vergleiche, welche Vergangenheitspolitik den Frieden stärken kann, fehlen. Die südafrikanische WVK verurteilte sowohl die Grausamkeiten staatlicher Stellen als auch die Gewalt der Aufständischen, was nach der Theorie des Ethnologen James Gibson als sehr positiv bewertet wird: Durch diese Schuldzuweisung an alle Seiten, so die Forschung, sei es allen einfacher gewesen, sich zu versöhnen und ihr Schwarz-Weiß-Denken zu überwinden. Umfragen zeigen allerdings ein gemischtes Bild: Während die Anerkennung der Legitimität des Staates bei allen Ethnien sehr hoch ist, mangelt es an politischer Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Versöhnung zwischen den „Rassen“ liegt, je nach Ethnie, zwischen einem und zwei Drittel.
Doch wer aus der Geschichte lernen will, dem sei zur Vorsicht geraten! Es fehlen Vergleichswerte aus dem Südafrika der Apartheid. Die Befunde sind trotzdem interessant und einleuchtend: die hohe Anerkennung des Staates ist nachvollziehbar, stand er doch immerhin für die Überwindung der Apartheid und die historische Aufarbeitung der Gewalt der Regierung. Aber das neue Gemeinwesen stand für die „Weißen“ eben auch dafür, nicht kollektiv verurteilt zu werden, sondern Teil der neuen Gesellschaft zu sein. Die „Versöhnung zwischen den Rassen“ ist nicht besonders hoch, aber vermutlich höher als während der Zeit des Gewaltregimes, wenn man bedenkt, dass die „Rassen“ nur selten aufeinander trafen – schließlich war diese Trennung der Kern des Regimes. Die Toleranzwerte lassen zwar, salopp gesagt, sehr zu wünschen übrig. Aber wer weiß schon, wie hoch die politische Toleranz in westlichen Ländern ist?
Eines wird deutlich: Friedensprozesse dürfen sich nicht zu stark auf Vergangenheitspolitik konzentrieren, dafür ist diese zu machtlos – zumindest scheinbar. Vielleicht aber, das bleibt offen, ist Südafrika auch stabil. Denn welche Gesellschaft merkt schon, wenn es ihr gut geht?

(Foto: World Economic Forum)

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