Die Welt verstummt

(Foto: © Valentin Schmehl)
(Foto: © Valentin Schmehl)

14 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Schwerhörigkeit. Von der Gesellschaft  werden sie oft als anstrengend oder schwer von Begriff abgestempelt – nicht hören bedeutet nicht verstehen.

von bexdeich

„Nicht sehen können heißt, die Menschen von den Dingen trennen; nicht hören heißt, die Menschen von den Menschen trennen.“ Immanuel Kant macht damit deutlich, dass Schwerhörigkeit weitaus mehr ist als das Nachlassen oder der Verlust eines Sinnes. Die Ohren sind Empfänger von Sprache, Lauten und Geräuschen und so ein entscheidender Teil der Kommunikation. Sie stellen den Kontakt zu anderen Menschen und zu unserer Umwelt her. Wenn diese Verbindung gestört ist, hat das weitreichende Folgen für die Betroffenen. Einer von ihnen ist Marco. Er leidet seit seiner Geburt an Schallempfindungsschwerhörigkeit. Aufgefallen ist es, als er im Alter von vier Jahren kaum sprechen konnte, seinen Kopf immer besonders nah an die Lautsprecherboxen hielt und auf Rufe und Aufforderungen anderer nur selten reagierte. Nachdem die  Schwerhörigkeit festgestellt und ihm ein Hörgerät eingesetzt wurde, eröffnete sich ihm eine völlig neue Welt. Eine laute, geräuschvolle Welt. Verstehen konnte er sie trotzdem nicht. Schwerhörigkeit ist die Fähigkeit nicht zu verstehen, was andere verstehen.

Verzerrt
Schwerhörigkeit ist ein herabgesetztes Hörvermögen, das eine Folge des Alterns sein kann. Es kann aber auch durch Lärm, Krankheit, Arzneimittelgebrauch oder erbliche Veranlagungen ausgelöst werden. Dabei lassen sich drei Arten der Schwerhörigkeit unterscheiden. Bei der ersten Form liegt eine Störung im äußeren oder mittleren Ohr vor und Schallsignale werden nur leiser gehört. Die Qualität des Gehörten wird jedoch kaum beeinträchtigt und kann durch Hörgeräte oder Operationen ganz oder teilweise wiederhergestellt werden. Bei der zweiten Art liegt die Störung im Bereich des Innenohres, des Hörnervs oder in den Hirnzellen selbst. Meist kann die Lautstärke noch relativ gut gehört werden, aber die Sprache wird unklar, verzerrt oder bruchstückhaft wahrgenommen. Die Ursache liegt im Verlust bestimmter Frequenzbereiche.  Die Störung ist nicht operabel und kann auch mit Hörgeräten nur zum Teil behoben werden. Betroffene einer kombinierten Schwerhörigkeit leiden an einer Mischform der beiden Arten.

Unsichtbar
Das besondere Problem der Schwerhörigkeit liegt darin, dass sie für Normalhörende nur schwer nachvollziehbar ist. Man sieht Marco seine Einschränkung nicht an. Er erzählt nicht jedem sofort von seiner Schwerhörigkeit. Einige merken es nicht, andere wundern sich über seinen kleinen Sprachfehler, fragen nach, und wieder andere halten ihn für etwas seltsam. Nach wie vor ist es verbreitet, dass allein lautes Sprechen oder Schreien dem schwerhörigen Menschen ein normales Hören und Verstehen ermögliche, was aber nicht der Fall ist. Im Gegenteil, es kann die Problematik sogar verschlimmern. Schwierig wird es gerade in Situationen mit lauten Umgebungsgeräuschen wie an Bahnhöfen, in Restaurants oder in größeren, sich unterhaltenden Gruppen. Daher sind die Vermeidung von Nebengeräuschen, ein langsameres und deutlicheres Sprechen sowie das Ins-Gesicht-Sehen bereits wesentliche Hilfen für die Verständigung.

Schwerstarbeit
Bei einem Gespräch bedeutet das seinem Gegenüber von den Lippen absehen, ihm ins Gesicht schauen, im Kopf ständig mitarbeiten zu müssen und zu überlegen, was der andere gemeint haben könnte. „Mir fällt es beispielsweise schwer zwischen ,p‘ und ,g‘ zu unterscheiden oder zu wissen, ob mein Gegenüber von ,Feld‘ oder ‚Zelt‘ spricht“, erklärt er.  Die Fähigkeit andere einigermaßen verstehen zu können, beruht auf jahrelangem und konstantem Training des Sprechens und Hörens. Normalhörende lehnen sich bei einem Gespräch entspannt zurück. Für Marco ist es Schwerstarbeit und am Ende eines Tages ist er froh, nicht mehr verstehen zu müssen.

Wattiert
„Steck dir Watte in die Ohren und du bekommst eine leise Ahnung, was Schwerhörigkeit bedeutet“ beschreibt Marco. Das Zeitungsrascheln, das Ticken der Uhr oder das Surren des PCs sind kaum noch wahrnehmbar. Beim Fernsehen laufen Untertitel mit. „Stell dir dazu vor, ständig in einer englischsprachigen Umgebung zu leben, aber nur wenige Wörter zu verstehen. So sieht meine Welt, eine verstummte und verzerrte Welt, jeden Tag aus. Die Hörgeräte erleichtern vieles, und trotzdem sind meine Konzentration und Aufmerksamkeit ständig gefordert“.

Herausgefordert
Auf Grenzen trifft Marco auch täglich während der Arbeit als Verfahrenstechniker. In einer Teambesprechung ist er noch mehr gefordert als bei einem Dialog. „Ich bitte meine Kollegen am Anfang darum, langsam und deutlich zu sprechen. Trotzdem bleiben schnelle Wortwechsel eine Herausforderung für mich und meine Bitte wird während einer Diskussion schnell vergessen.“ In größeren Gruppen ist es für ihn schwierig zu hören, wer genau spricht und beim Durcheinanderreden überhaupt noch etwas zu verstehen. Er versucht sein Handicap durch ständiges Mitdenken und durch Nachfragen zu kompensieren. Trotz großer Anstrengung wird er (dennoch) nie so schnell kontern können wie ein Normalhörender. Daneben stellt Telefonieren immer wieder eine besondere Form des Hörstresses dar. Hier kann dem Gegenüber nicht ins Gesicht geschaut werden. „Ich bin nie sicher, ob ich richtig verstanden werde und ob ich selbst richtig verstehe. Beim Telefonieren bin ich deswegen unsicher und besonders angespannt.“ Das kann manchmal sehr enttäuschend sein. In seiner Freizeit hält Marco sich lieber in kleinen Gruppen auf; mitlachen, mitreden und mitdiskutieren – alltäglich für Hörende – sind Dinge, die er sich hart erarbeitet hat. Vor dem Hintergrund der kommunikativen Unsicherheit ist Marco ein eher zurückhaltender und ruhiger Zeitgenosse. Er tanzt für sein Leben gern, liest und reist viel und ist engagiertes Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr. Schlafen kann er wie ein Stein „Mein Gehör wird quasi ausgeschaltet, sobald ich die Hörgeräte herausnehme und schlafen gehe. Ich höre dann fast nichts mehr. Nur Wecker, die mit hohen Frequenzen klingeln, wecken mich.“

Behindert
Marco ist mittlerweile 34 und zufrieden mit sich und seinem Leben. „Ich muss und ich kann mit meiner Schwerhörigkeit leben“. Diese Gelassenheit hat er nicht immer ausgestrahlt. Während seiner Schulzeit stieß er auf Barrieren, sei es wegen anderen Mitschülern oder Lehrern, die ihn nicht unterstützten. Darum wechselte er Mitte der siebten Klasse von der Realschule auf ein Internat für Schwerhörige. Hier wurde besser auf seine Bedürfnisse eingegangen. Nach dem Abitur und einem erfolgreich abgeschlossenen Studium der Verfahrenstechnik war die Jobsuche eine weitere Hürde. Zuerst erwähnte Marco in seinen Bewerbungsunterlagen seine Schwerhörigkeit – dies bescherte ihm viele Absagen. Anscheinend wissen Arbeitgeber wenig über diese unsichtbare Einschränkung und wie sie damit umgehen sollen.  Dem Thema wird selten Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl das wichtig wäre. Eine erfolgreiche Integration und die Auflösung von falschen Vorstellungen, wie beispielsweise „Hörgeräte ermöglichen wieder normales Hören“, scheinen dringend nötig zu sein. Marco fand erst eine Anstellung, nachdem er die Schwerhörigkeit aus seinem Bewerbungsschreiben gestrichen hatte. Der Schwerbehindertenausweis bleibt dennoch im Portemonnaie.

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