Ein Rehkitz, das im Schneesturm verzweifelt nach seiner Mutter ruft; vor der Leinwand Kinderaugen, die sich mit Tränen füllen: Die Welt von Disney bietet neben buntem Spaß auch Trauer und Tragik.
von Frank
Dass Filme aus dem Hause Disney falsche Vorstellungen von der Liebe vermitteln, ist fast schon sprichwörtlich geworden. Dabei ist die bunte Zeichentrickwelt auf den zweiten Blick gar nicht so heil, wie man zunächst vermuten könnte – besonders, wenn man die familiären Konstellationen betrachtet: Statt intakter Kernfamilien finden sich über die Jahrzehnte hinweg eine Menge Halb- oder Vollwaisen im Disney-Universum; angefangen von Grimm’schen Märchenadaptionen über den Wolfsjungen Mowgli bis zur kleinen Penny in Bernhard und Bianca. Bisweilen ist sogar die (Zer-) Störung der Familienidylle ein tragender Teil der Handlung: Wer erinnert sich nicht an die Trennung des kleinen Dumbo von seiner fürsorglichen Elefantenmutter? Aber kein Zeichentrickfilm ist in diesem Zusammenhang wohl einschlägiger als der Klassiker von 1942: Disneys Bambi. Der tragische Tod der Mutter und das herzzerreißende „Mama, wo bist du?“ des kleinen Kitzes kamen allerdings zunächst nicht gut an beim kriegsbedingt verunsicherten US-Publikum. Erst bei der Wiederaufführung 1947 wurde Bambi zum finanziellen Erfolg – und zum Filmklassiker.
„Das wird heftig“
Die Verarbeitung düsterer Themen war ein Kennzeichen der frühen Filme unter der Ägide Walt Disneys, weiß der britische Kulturkritiker und Disney-Biograph Christopher Finch. Insofern stehe Bambi in einer Linie mit Vorgängern wie Schneewittchen und die 7 Zwerge oder Pinocchio.
Die Ansichten des Meisters selbst und seines Teams lassen sich auch an mittlerweile veröffentlichten Gesprächsprotokollen der Bambi-Produktionszeit nachvollziehen. Dabei wurde natürlich u.a. über den Tod von Bambis Mutter diskutiert: „Anstatt Bambi in dieser Szene zu erschießen, erschießen wir die Mutter… Das wird ziemlich heftig“, ist sich ein Mitarbeiter Disneys sicher. „Das ganze Publikum wird sagen ‚Gleich steht sie wieder auf’ – doch sie tut es nicht!“ Der Vorschlag, die tote Mutter im Film zu zeigen, wurde allerdings wieder verworfen. Walt Disney selbst hatte Bambis anschließende Suche nach seiner Mutter im Schneegestöber bereits klar vor Augen: „Es wird herzzerreißend, wenn Bambi nach seiner Mutter ruft“, schwärmte er. „Ich stelle mir das als eine sehr bewegende Szene vor.“
Schonkost für die Kleinen?
Die Reaktionen des Publikums bestätigten Disney in seiner Erwartung: Schnell kam die Frage auf, ob der Film für jüngere Kinder geeignet sei und ob Zeichentrickfilme überhaupt derartige Szenen beinhalten sollten. Walt Disney selbst zeigte sich allerdings noch in einem Essay aus dem Jahr 1963 – drei Jahre vor seinem Tod – davon überzeugt, dass man die kindlichen Zuschauer nicht in Watte packen dürfe. Das Leben bestehe nun einmal aus dem Nebeneinander von Licht und Schatten: „Man tut einem Kind keinen Gefallen, wenn man versucht, es vor der Realität zu schützen. Das Wichtigste ist, dem Kind zu zeigen, dass das Gute immer über das Böse triumphieren kann – und das ist, was unsere Filme versuchen.“
Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Disney-Studios allerdings bereits ein Stück weit dem Verlangen des Publikums nach leicht bekömmlicher Familienunterhaltung angepasst. „Besonders in den 50ern und 60ern wollten die Zuschauer weichere Storys“, weiß Disney-Experte Finch. In Deutschland wurde 1973 im Zuge der Wiederaufführung von Bambi sogar die Synchronisation komplett erneuert und „kindgerechter“ gestaltet: Die ernstere Erstsynchronisation von 1950, die sich noch stark an der englischen Originalfassung orientiert hatte, wurde zugunsten der harmloseren Textvariante verworfen. Seitdem darf nach dem Willen der Firma Disney bei Veröffentlichungen nur noch die Synchronisation von 1973 verwendet werden.
Die Strategie der leicht bekömmlichen Disney-Familienunterhaltung setzte sich indes nach dem Tod des Altmeisters längere Zeit fort, bis Mitte der 80er Jahre das Ruder der Disney-Studios in neue Hände und unter die Leitung von Jeffrey Katzenberger und Michael Eisner kam. „Die Veränderungen unter ihrer Führung spiegelten die sich wandelnden Ansprüche in der Gesellschaft wider“, erklärt Christopher Finch.
http://www.youtube.com/watch?v=W-P7_7DabBo&feature=related
Bambi in Afrika
Die Zeiten hatten sich geändert. Don Bluth hatte bereits 1988 eine herzzerreißende Sterbeszene der Dinosauriermutter aus In einem Land vor unserer Zeit aufgeboten. Auch bei Disney wurde man explizit: War der mütterliche Tod bei Bambi noch aus der literarischen Vorlage von Felix Salten („Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde“) übernommen, gab es 1994 beim König der Löwen erstmals in der Disney-Filmgeschichte keine zu adaptierende Story. Umso markanter wirkt die Entscheidung der Macher von Simba und Co., über fünfzig Jahre nach dem pädagogisch umstrittenen Klassiker wieder ein Elternteil im Film sterben zu lassen – und den Tod diesmal sogar (sichtbar) auf die Leinwand zu bringen.
Der Einfluss derartiger Darstellungen auf die jungen Zuschauer hängt dabei stark von der konkreten Konstellation des Films und der Situation des rezipierenden Kindes ab, weiß Richard Stang, Geschäftsführer des Instituts für angewandte Kindermedienforschung an der Hochschule der Medien Stuttgart. „Daher ist es schwierig, die Konsequenzen der Filme zu untersuchen oder pauschale Urteile über ihre Wirkungen auf die Kinder zu fällen.“ Neben dem Alter spielten die Medienerfahrung und das soziale Umfeld der Kinder eine große Rolle.
Die Reaktionen des elterlichen Publikums auf den toten Löwen-König Mufasa und das ergreifende „Steh auf Papa… Du musst aufstehen!“ seines kleinen Sohnes Simba fielen indes weniger aufgeregt aus als beim Präzedenzfall Bambi. Damit war der Film – ob intendiert oder nicht – wohl auch Ausdruck einer veränderten Kindermedienkultur. „Bestimmte Themen werden heute direkter angesprochen und filmisch umgesetzt als früher“, weiß der Medienpädagoge Stang. „Kinder werden heutzutage, auch über das breitere Medienangebot, mit Vielem konfrontiert, das sonst nur für Erwachsene bestimmt war.“
Am Ende ein Stück erwachsener
Entsprechend lassen sich auch in den jüngeren Filmen aus dem Hause Disney familiäre Verluste verzeichnen – etwa in Tarzan, Findet Nemo oder Bärenbrüder. Keiner der Filme erreicht dabei aber die emotionale Intensität des König der Löwen, für den sich die Macher stark durch Stil und Story des Kitz-Klassikers hatten inspirieren lassen. Das Ergebnis war ein „Bambi der 90er“, wie es der US-Filmhistoriker Leonard Maltin in seinem Standardwerk The Disney Films ausdrückt. Dabei stelle der Lion King den bis dahin erwachsensten unter den Zeichentrickfilmen der Disney-Studios dar. Die Botschaft sei allerdings die gleiche wie beim Klassiker Bambi: „Life must go on.“
Genau dieses Motiv, das Wachsen an Herausforderungen, finde sich in Erzählungen für Kinder über Zeiten und Kulturgrenzen hinweg, so Richard Stang: „Es geht darum, dass sich der Protagonist im Laufe der Geschichte weiter entwickelt, durch Höhen und Tiefen geht und am Schluss ein Stück weit erwachsener ist.“ Eher darin liege der Vorbild-Charakter des jungen Helden als in dessen konkreten Handlungen, erklärt der Medienpädagoge.
Darin würde ihm Walt Disney sicher zustimmen.
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