Auch in den ehemaligen Ostblockstaaten wird inzwischen intensiv über die jüngere Vergangenheit nachgedacht. Ein beispielhafter Überblick zu vier Ländern. Teil 2: Polen und Rumänien.
Polen: Folgenschwere Augenschäden
von Anna Luczkiewicz
Die Hälfte aller Polen geht aktuellen Umfragen zufolge davon aus, dass es ihnen seit 1989 besser ergangen ist als in den Jahren davor. Viele andere Landsleute aber verbinden die neugewonnene Freiheit mit einer Verschlechterung ihrer Lebensqualität und wachsender Armut. Letztere schmerzt umso mehr, wenn der Nachbar statt dem in der Volksrepublik Polen (PRL) einst populären Polski Fiat 126P (zärtlich „Kleiner“ genannt) nun eine Mercedes-Limousine aus der Garage fährt. Seit 2005 haben die rechts orientierten Parteien zwar deutlich an Kraft gewonnen, doch hatten bei den Sejm-Wahlen vier Jahre zuvor noch mehr als 40 Prozent aller Polen ihre Stimme der postkommunistischen SLD gegeben, die 1990 u.a. aus der PZPR hervorgegangen war. Und 1995, also gerade einmal sechs Jahre nach dem Untergang des Kommunismus in Polen, wurde mit Aleksander Kwaśniewski ein ehemaliger Minister des alten Regimes zum Präsidenten gewählt. Bemerkenswert ist, dass er damals Lech Wałęsa ausstach, immerhin die Ikone der Solidarność! Hatten die Polen die Verbrechen, die Unterdrückung durch das „System“ und die Grotesken des Alltags tatsächlich so schnell vergessen? Nein – und trotzdem schauen viele bis heute nostalgisch zurück. Aber was ging durch die politische Freiheit verloren, woran fehlt es ihnen? Die 80-Jährigen vermissen das „Soziale“, die von den Arbeitgebern organisierten kostenlosen Unterkünfte und das „damalige Sicherheitsgefühl“. Die 50- bis 60-Jährigen erinnern sich an schillernde Zeiten, als die Menschen sich oft trafen, zusammen sangen und Karten spielten. Natürlich haben sie ihre Sommerferien damals in den Masuren und nicht auf Ibiza verbracht, sie verdarben sich ihre Augen beim Lesen von Samisdat und sie trugen „Szariki“, die „Levi’s des Ostens“ – v.a. aber waren sie jung und glücklich.
Und die heute 30-Jährigen? Sie erinnern sich dunkel an den seltsamen Geschmack der Placebo-Schokolade „Frau Twardowska“ und werfen mit Zitaten aus Kultfilmen wie „Rejs“ (dt. „Der Ausflug“) oder „Miś“ (dt. „Bär“) um sich. Sie kreieren ostalgische Webseiten, sammeln Gadgets, tummeln sich auf „PRL Partys“ und in „Klub-Cafe“-Lounges, die in allen größeren polnischen Städten wie Pilze aus dem Boden schießen. Denn längst ist das einst nur Unwohlsein auslösende Kürzel PRL zu einer echten Mode geworden und avanciert inzwischen sogar zum Exportschlager.
Anna Luczkiewicz wuchs in Krakau in Polen auf und arbeitet heute als Schulungskoordinatorin der International Air Transport Association (IATA) in Genf.
Rumänien: Totgesagte leben länger
Zsuzsa Berger-Nagy
Die härteste Diktatur im ehemaligen Ostblock gab es ohne Frage in Rumänien. Ceaușescu und die Securitate waren bis Dezember 1989 Synonyme für Unterdrückung, Angst und Bespitzelung. Für den rumänischen Bürger bedeutete die „Epoca de Aur“ (das „Goldene Zeitalter“) einen Alltag zwischen zahlreichen Erniedrigungen und Einschränkungen, zwischen Essensmarken, endlosen Schlangen, Zensur und zweistündigen Fernsehsendungen, die dem Kommunismus und insbesondere dessen Führer Ceaușescu, dem „geliebten Vater der Nation“, huldigten. Keiner kann sich ernsthaft nach solch einem System zurücksehnen – würde jeder halbwegs freiheitsliebende Mensch denken! Zu einem ganz anderen Ergebnis kommen jedoch aktuelle Umfragen. Laut einer Befragung des „EUobserver“ vom September 2010 ist die Sehnsucht der Rumänen nach den „guten alten Zeiten“ groß. 61 Prozent halten den Kommunismus für eine gute Idee und ganze 25 Prozent glauben sogar, dass Ceaușescu ein guter Führer war. Der „EUobserver“ bescheinigt den Rumänen daher auch nicht ohne Zynismus eine „nationale Amnesie“. Vielleicht avanciert das Grab des kürzlich exhumierten Diktatoren-Ehepaares nach der DNA-Analyse nun ja doch noch zum Pilgerort für größere Menschenmassen …
Nostalgische Gefühle werden auch von der Zeitschrift Libertatea (dt. „Freiheit“) geschürt, indem sie mit pathetischen Texten für aus den Achtzigern recycelte CDs, Bücher und Filme wirbt – eher Retro-Stücke als authentische Zeitzeugen mit ideologischem Kolorit. Skurril erscheint auch die Ankündigung eines neuen Computerspiels namens „Alimentara“. So hieß früher der „Konsum“ in Rumänien, stets mit ganz viel Platz zwischen den Waren … Gewinnen kann man dabei auch, nämlich Rundreisen durch die ehemaligen kommunistischen Länder oder einen neuntägigen All-inclusive-Trip nach Moskau. Die Resonanz auf derlei Werbung ist immens: Hunderte Forumsbeiträge beteuern, dass es damals besser war, gab es doch Sicherheit im Alltag und des Arbeitsplatzes und keine großen sozialen Unterschiede. Für ein paar Bananen habe es sich wirklich nicht gelohnt, dies alles aufzugeben – so die vorherrschende Meinung. Dass die Menschen über ihr eigenes Elend Witze machen und aus ganzem Herzen lachen konnten, das war damals tatsächlich besser. Nur scheint ihnen diese Fähigkeit irgendwann nach 1989 abhanden gekommen zu sein.
Zsuzsa Berger-Nagy wuchs in Mediaș und Sighișoara in Rumänien auf und arbeitet heute als Gedenkstättenpädagogin in Weimar.
Schreibe einen Kommentar