Die Roma sind mit etwa zehn Millionen Menschen die größte Minderheit in der EU. Doch schon die korrekte Bezeichnung der Volksgruppe – Sinti in Mitteleuropa, Gitanos im Westen und Roma im Osten des Kontinents – fällt vielen von denen schwer, die sich gern zur Union der gemeinsamen Grundrechte und Chancen bekennen. Um die anhaltende Diskriminierung der Roma wissen die wenigsten.
von Johannes Bettin
Die Mauer hat ein paar wohldimensionierte Lücken; groß genug, dass man hindurchsehen kann; zu klein aber, als dass man sich durch sie die Hand reichen könnte. Während auf der anderen Seite adrette Einfamilienhäuser mit Pool und Garage glänzen, hausen die Menschen hier in Höhlen am Berghang, ohne fließendes Wasser, befestigte Straßen oder sonstige (sozial-)staatliche Infrastruktur. Dieser Anblick zeigt nicht etwa die Segregation in den USA der fünfziger Jahre. Wir befinden uns im Europa des Jahres 2010, im Stadtteil Sacromonte von Granada, Spanien, der fast ausschließlich von Roma bewohnt wird.
Teufelskreis der Ausgrenzung
Zwar ist die Volksgruppe nirgendwo so stark vertreten wie in Spanien, aber derartige Lebensverhältnisse sind bei Weitem kein Einzelfall. Die italienische Regierung, welche im Jahre 2008 die Romabevölkerung als „nationales Sicherheitsrisiko“ eingestuft hat, ließ im letzten Jahr über einhundert Behausungen von Romafamilien in der Hauptstadt zerstören, um sie laut Aussage eines Regierungssprechers am Stadtrand in dreizehn „Camps“ zu „konzentrieren“. Ähnliche Zwangsräumungen hat Amnesty International in den letzten Jahren in Bulgarien, Griechenland, Rumänien und Serbien registriert. Man behandle die Menschen „wie Müll“, heißt es in einem Bericht. Die Weltbank diagnostiziert, Europa würde pro Jahr hunderte Millionen Euro durch die Ausgrenzung der Roma verlieren.
Oft bedingt nicht nur soziale Exklusion die räumliche, sondern auch umgekehrt. In Italien und anderswo existieren spezielle Schulen für Roma, werden diese gar auf Behindertenschulen untergebracht, da sie nur ihre eigene Sprache sprechen. Aber: Ohne Integration keine Bildung, ohne Bildung kein Arbeitsplatz und ohne Wohlstand keine Integration. Können wir einen Beitrag zu unserem Sozialprodukt von Menschen fordern, denen wir nicht einmal die Chance bieten unsere Sprache zu erlernen?
Bestätigte Vorurteile?
All das ist aber eben nur eine Sichtweise: „Sind Sie Zigeuner?“ Der bei einem deutschen Unternehmen in Budapest arbeitende Ingenieur, der lieber nicht namentlich genannt werden möchte, ist ein gebildeter Mann und bestimmt weit entfernt von Rassismus. Dennoch weist er potentielle Mieter nach dieser Frage meistens ab. Zwar würde er seine Eigentumswohnung wirklich gern vermieten, aber schon zweimal ist eine Roma-Familie einfach verschwunden, nachdem sie die Immobilie in einen unbewohnbaren Zustand versetzt hatte und mehrere Monate mit der Miete im Rückstand lag.
Von den zehn Prozent der Ungarn, die sich den Roma zurechnen, haben siebzig Prozent keine Arbeit. Nur fünf Prozent von ihnen können den Abschluss einer weiterführenden Schule vorweisen. Zweifel an der Kompatibilität der Roma-Kultur mit der europäischen, ja am Integrationswillen der Roma allgemein, werden angesichts dessen nicht nur in den Hassparolen der rechtsextremen Partei Jobbik laut. So stehen Umfragen zufolge achtzig Prozent der ungarischen Studenten unter dem Einfluss rechten Gedankengutes.
Wie es so weit kommen konnte
Dabei beruht die Stigmatisierung der Roma vielfach auf unbestätigten Vorurteilen. Allensbach fand heraus, dass über sechzig Prozent der deutschen Bevölkerung Roma als Nachbarn ablehnen würden, obwohl fast keiner der Befragten Roma zu seinen persönlichen Bekannten zählte.
Dass der vermutlich eigentlich vom persischen „cyganch“ (Musiker) stammende Begriff „Zigeuner“ durch die langjährige Herleitung von „Ziehen“ und „Gaunern“ als herabwürdigend empfunden wird, wissen die wenigsten. Ein Grund für diese Unkenntnis und hartnäckigen Vorurteile mag sein, dass die Aufarbeitung des Schicksals der Roma, anders als etwa die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust, nach dem Zweiten Weltkrieg kaum stattfand. Die offizielle Anerkennung der 500.000 Opfer unter den Roma ließ bis 1982 auf sich warten.
Weithin unbekannt ist, dass der größte Teil der Roma im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts sesshaft geworden ist. Eine einheitliche „Lebensweise“ der Minderheit ist ein ebensolcher Mythos wie die von Jobbik pauschal beschworene „Zigeunerkriminalität“. Traditionelle Gewerbe wie das wandernde Schaustellen, für die Schulbildung von untergeordneter Bedeutung sind, haben weite Teile der Minderheit längst aufgegeben. Den Einstieg in die Mehrheitsgesellschaft allerdings fanden viele durch ungelernte Stellen in der zu Sowjetzeiten boomenden Industrie. Ausgerechnet in diesem Wirtschaftszweig brachte dann der Systemumbruch Arbeitslosigkeit und manchmal auch Illegalität hervor.
Schützt Europa seine Minderheiten?
Mag auch das Dilemma, wer Schuld an der Situation der Roma trägt, nicht abschließend zu lösen sein, so stellt sich heute doch vor allem die Frage nach Auswegen. In Internetforen kursiert die Forderung, man müsse den Kinderreichtum der Minderheit staatlich einschränken. Derartige Äußerungen kommen nicht von ungefähr: Aus der Tschechischen Republik sind auch aus der Zeit nach 1989 dutzende Fälle von Zwangssterilisationen bekannt geworden.
Über ihre Absurdität hinaus verweisen solche Fälle auf ein Grundproblem der Roma-„Emanzipation“: Was tun die Verantwortlichen, zum Beispiel die Regierungen, für einen verbindlichen Minderheitenschutz, für eine Integration derer, die sich nicht selbst helfen können? Aber vor allem: Was tut die Europäische Union, deren Motto „In Vielfalt geeint“ doch durchaus ehrgeizige Ziele setzt?
Obwohl der Minderheitenschutz in Europa traditionell den Nationalstaaten obliegt, wurden die Roma beispielsweise in Deutschland erst im Jahre 1995 als Minderheit anerkannt; in Frankreich galten sie sogar noch etwas länger als „fahrendes Volk“, dem Bürgerrechte nicht zuerkannt werden müssen.
Die erste Erwähnung des Minderheitenschutzes im Vertragssystem der Union stammt – abgesehen von der Europäischen Menschenrechtskonvention, die aber nie von allen Mitgliedern unterzeichnet wurde – aus den berühmten Kopenhagener Beitrittskriterien von 1993. Tatsächlich wurden wegen ihnen in vielen Ländern entsprechende Klauseln in die Nationalverfassungen aufgenommen. Wer will aber auf eine rigide Durchsetzung dieser Rechte von Seiten der Beitrittskandidaten pochen, wenn die Kriterien von den „alten“ EU-Mitgliedern nicht als verbindlich angesehen werden?
Weiterhin werden unzählige Fälle alltäglicher Diskriminierung in Roma-Netzwerken im Internet dokumentiert. Viele Roma verschweigen angesichts zu erwartender Nachteile ihre Identität in der Öffentlichkeit. In einigen slowenischen Gemeinden haben die Angehörigen der Minderheit kein Wahlrecht, Gewaltakte von staatlicher Seite sollen gar mancherorts zum Alltag gehören.
Spektakulärstes Beispiel für das Versagen des Schutzes von europäischen Werten in der Praxis sind wohl die unter Hoheit von UN und EU geschehenen rassistischen Übergriffe auf Roma im Kosovo seit 1999, in deren Folge achtzig Prozent von ihnen das Land verlassen mussten.
Grund zur Hoffnung?
Nachdem im Jahre 2005 das Europäische Parlament erstmals eine „positive Diskriminierung“ beschloss und ein Programm zur Förderung der Minderheit auch mit entsprechenden finanziellen Mitteln unterlegte, garantiert der im letzten Jahr in Kraft getretene Vertrag von Lissabon endlich einen unmittelbaren und verbindlichen Minderheitenschutz für die gesamte EU. Er verspricht zum Beispiel in Artikel 3, den „Reichtum ihrer kulturellen Vielfalt“ als Wertegrundlage der Union zu schützen.
Besonders aber die Roma selbst haben in letzter Zeit dazu beigetragen, zu ihren Rechten zu gelangen. Seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts existieren regelrechte Roma-Bewegungen“. Sie klagen erfolgreich gegen europäische Regierungen oder bemühen sich darum, ein Bewusstsein für die tiefe Verankerung der Roma-Kultur in Europa zu wecken. In Zusammenarbeit mit Institutionen der EU ist im Jahre 2005 die „Dekade der Roma-Integration“ ausgerufen worden, der achte April wurde mittlerweile als „International Roma Day“ zum Festtag erklärt. Dennoch: Auf einem eigens initiierten Gipfel in diesem April erschienen ganze zwei (!) europäische Minister. Der schwer enttäuschte französische Staatssekretär bei der EU, Pierre Lellouche, erklärte im Interview, er könne „keinerlei politischen Willen“ erkennen.
Zumindest die spanische Regierung demonstriert diesen nun, indem sie in den nächsten zwei Jahren 107 Millionen Euro zur Integration der Roma bereitstellen will. Solange die Bewohner der Luxushäuser auf der anderen Seite der Mauer zumindest nicht einen Blick hinüber wagen, wird aber auch ein Wasseranschluss für die Höhlen von Sacromonte wenig ändern.
Johannes Bettin studiert Politikwissenschaft und Ökonomie an der FSU Jena. Er möchte sich für die Entrechteten dieser Welt einsetzen, indem er diesen zunächst eine Stimme zu geben versucht – unter anderem durch seine Mitarbeit in der Hochschulgruppe von Amnesty Internationel.
(Foto: Patrick Spence)
Schreibe einen Kommentar