Dass Engländer einen mitunter recht derben Humor und sehr niedrige Peinlichkeitsschwellen haben, ist ja bekannt. Umso verwunderlicher, dass der frühe Großmeister in der Königsdisziplin der gesellschaftlichen Selbstdemontage, dem Kunstfurzen, nicht aus ihren Reihen stammt – er kam ausgerechnet aus dem Land ihrer Erzfeinde.
von Luth
Nicht nur bei Dieter Bohlen, auch bei über sechs Millionen Fernsehzuschauern der RTL-Show „Das Supertalent“ hinterließ der Auftritt von Paul Oldfield am 17. Oktober 2009 einen bleibenden Eindruck. Der unter dem viel sagenden Pseudonym „Mr. Methane“ antretende britische Kunstfurzer hatte mit wohldosierten Flatulenzen seine ganz eigene Interpretation des Strauss-Walzers „An der schönen blauen Donau“ zum Besten gegeben, sich anschließend ein Blasrohr in den Anus gesteckt und mit gezielten Pfeilschüssen Luftballons zum Platzen gebracht. Oldfields Talent ist allerdings nicht so einmalig und neu, wie einige deutsche Medien danach behaupteten. Schon 1890 trat im Pariser Varieté „Moulin Rouge“ ein Mann auf, dessen ungewöhnlich mächtige und kunstvolle Darmwinde jahrelang Stadtgespräch waren. Er erhielt eine höhere Gage als Sarah Bernhardt, seine Vorführungen zogen berühmte Persönlichkeiten wie Sigmund Freud, Leopold II. von Belgien, Christian IX. von Dänemark und den britischen Thronfolger Edward an. Die Rede ist von Joseph Pujol (1857–1945), genannt „Le Pétomane“, dem selbst ernannten „König aller Kunstfurzer“.
Popkulturelle Gelddruckmaschine der Belle Époque
Auf der Elefantenbühne im Garten des „Moulin Rouge“ (nicht zufällig auch in Sichtweite der „Roten Windmühle“) trötete „der Furzomane“ allabendlich Kerzen aus, rauchte durch einen Gummischlauch im Hintern Zigaretten, imitierte eine Posaune, die „Marseillaise“ oder den Kanonendonner der Schlacht von Austerlitz. Auf Zuruf ahmte er bereitwillig die Fürze einer Brautjungfer vor der Hochzeitsnacht (eng) und am Morgen danach (weit) nach. Die vergnügungssüchtige Bohème des Stadtbezirks Montmartre hielt sich vor Lachen minutenlang den Bauch. Im Hintergrund standen Krankenschwestern bereit, um im Notfall die in ihren engen Korsetts kollabierten Damen behandeln zu können – während die Varietébetreiber Joseph Oller und Charles Zidler in ihrem Büro die Banknoten zählten. Pujol traf mit seiner ungewöhnlichen Performance genau den Nerv der Zeit, er war die popkulturelle Gelddruckmaschine des dekadenten Fin de siècle. Die meisten Kunstfurzer (engl. „Flatulists“) beherrschen die seltene Kunst der Analinhalation – Pujol aber brachte sie erst zur Perfektion. Seine Bauchmuskulatur setzte er so gezielt ein, dass er enorme Mengen Luft in seinen Darm aufsaugen und dann – indem er den äußeren Afterschließmuskel willentlich kontraktierte bzw. relaxierte – in Tenor-, Bariton- und Basstonlage (zu Akkorden oder Melodien moduliert) wieder ausstoßen konnte. Entdeckt hatte Pujol diese Fähigkeit bereits als junger Mann beim Schwimmen: Ungewollt waren ihm damals riesige Mengen Wasser in den Verdauungstrakt geströmt und am Strand schwallartig wieder herausgelaufen.
Der „Führer“ war „not amused“
Doch war auch Pujol beileibe nicht der erste Kunstfurzer, wie Jim Dawson in seiner 1999 erschienenen „Kulturgeschichte des Furzes“ nachweist. So berichtet der Kirchenlehrer Augustinus in seiner Schrift „De civitate Dei“ von ähnlich agierenden Gauklern schon im antiken Rom. Der französische Essayist Michel de Montaigne erwähnt 1580 einen deutschen Flatulisten am Hofe des Habsburgerkaisers Maximilian I. Indische Hindu-Yogis nutzen die Technik der Analinhalation bereits seit Jahrhunderten, um ihren After rituell zu reinigen. Auch zahlreiche japanische Misemono-Künstler bauten „luftige“ Nummern in ihr Bühnenprogramm ein, der Berühmteste unter ihnen, Kirifuri-hanasaki-otoko, trat 1774 sogar in der Kaiserstadt Edo auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kaum noch professionelle Kunstfurzer. Vollkommen verschwand das Phänomen aber nicht, v.a. die Literatur hielt das Thema wach. Einige Bekanntheit erlangte z.B. Serge Gainsbourgs 1980 erschienene Kurzgeschichte „Das explosive Leben des Evguénie Sokolov“, die das am Ende tödliche Schicksal eines an Meteorismus leidenden Künstlers thematisiert. In „Tod eines Künstlers“ aus dem Jahr 2000 erzählt der Schriftsteller Marcus Hammerschmitt die so bizarre wie fiktive Lebensgeschichte des Kunstfurzers Filemon Geprägs, der 1936 sogar vor Adolf Hitler konzertierte – der „Gröfaz“ verließ die Aufführung nach nur zehn Minuten, um ein Haar wäre Geprägs im KZ gelandet. Und als 1987 in Hamburg der vom Aktionskünstler André Heller initiierte Vergnügungspark „Luna Luna“ seine avantgardistischen Pforten öffnete, waren die Flatulisten im sogenannten „Palast der Winde“ die (un-)umstrittene Hauptattraktion.
Professionelle Arschtrompeterei
Über den künstlerischen Wert der professionellen Arschtrompeterei mag man geteilter Meinung sein, und wahrscheinlich sollte man danach auch nicht fragen. Flatulisten sind nicht mehr als schräge Unterhaltungskünstler und verstehen sich auch selbst als solche. Zu bewundern ist aber der Mut zur Hässlichkeit und die grenzenlose Selbstironie dieser Poètes maudites. Mit ihrer unkonventionellen, i.d.R. akutes Fremdschämen auslösenden Körperkunst bewegen sie sich in einem Bereich weit außerhalb des allgemein Tolerierten. Einer zunehmend von Perfektionismus, Anpassungsdruck, angstbesetzten Schamschwellen und Doppelmoral geprägten Gesellschaft strecken sie vergnügt das Hinterteil und damit auch den Spiegel entgegen – Norbert Elias lässt grüßen! Insofern war das Ausscheiden von Mr. Methane im Halbfinale der RTL-Show wirklich bedauernswert …
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