Wer den albanischen Nationalschriftsteller Ismail Kadare nicht bereits kennt, lässt sein neuestes Buch mit dem banalen Titel „Ein folgenschwerer Abend“ sicherlich im Regal stehen. Das ist schade, denn er verpasst ein aufregendes Stück Weltliteratur!
von Kalilan
Warum man aus dem „Irrtümlichen Gastmahl“ (alban. „darka e gabuar“) den grandios unaufregenden Titel „Ein folgenschwerer Abend“ gemacht hat, bleibt ein Rätsel, denn so trivial ist die Geschichte keineswegs: In der Abenddämmerung des Zweiten Weltkrieges marschiert die deutsche Wehrmacht in Albanien ein. Kaum hat Divisionskommandeur Oberst Fritz von Schwabe die südalbanische Stadt Gjirokastra besetzt, verkündet er zwei Befehle: Der erste lautet Geiseln zu nehmen, um herauszufinden, wer die deutsche Vorhut angegriffen hat. Damit hatte man gerechnet. Aber der zweite Befehl, nämlich einen gewissen Dr. Gurameto herzubringen, kommt genauso unerwartet wie die anschließende Einladung zum Abendessen ins Haus des Arztes. So bricht das „Laster, an dem die Stadt seit vielen Generationen litt, nämlich über alles und jeden wilde Spekulationen anzustellen, aufs Neue ungestüm hervor“.
„…womöglich in Ketten, auf jeden Fall aber mit einem Revolver an der Schläfe.“
Vor allem wird die Einwohner der Stadt – diese ewig rätselnde, fabulierende, spionierende und denunzierende Bande – die Frage beschäftigen, wie es Dr. Gurameto gelungen ist, im Verlauf des mysteriösen Gastmahls die Freilassung sämtlicher Geiseln zu erreichen. Während man das eine Mal bereits um die Ernennung Gurametos zum faschistischen Gouverneur Großalbaniens – nein, des ganzen Balkans! – weiß, wähnt man ein anderes Mal den Helden gefesselt, „womöglich in Ketten, auf jeden Fall aber mit einem Revolver an der Schläfe.“
Doch schlussendlich muss die Stadt die Frage nach Verrat oder Heldentat nicht selbst beantworten, denn die politische Großwetterlage ändert sich und für den kleinen Mann von der Straße heißt es, das eigene Weltbild dem offiziellen anzupassen, wenn er nicht nass werden will: „So schwer es den Leuten am Anfang gefallen war, an Verfehlungen des Arztes zu glauben, so leicht fiel es ihnen später. Die Welt war voll von Wind und Regen, und genauso von Schuld. Man würde auch bei dem Doktor etwas finden, und sogar so viel, dass es noch für andere reichte.“
„Alle Flugblätter endeten mit den Worten ‚Jetzt oder nie!’„
Während die Figuren und mit ihnen der Erzähler darauf bedacht sind, jedes Geheimnis durch eine waghalsige Erklärung aufzulösen, hinterfragt Kadare mit seiner spielerisch-ironischen Art unsere Fähigkeit ein sicheres Urteil zu bilden und macht uns immer wieder darauf aufmerksam, wie sinnlos (hätte es nicht so fatale Auswirkungen, könnte man fast sagen: wie possierlich) das menschliche Treiben im Großen und Kleinen anmutet: „Alle Flugblätter endeten mit den Worten ‚Jetzt oder nie!’. Diese Formel wurde von beiden verfeindeten Lagern verwendet. Sie war bereits seit mehr als hundert Jahren in Gebrauch. Weshalb man nicht genau wusste, was man unter ‚jetzt’ verstehen sollte, und schon gar nicht, was mit ‚nie’ gemeint war.“
Doch trotz der fein-herben Ironie hebt die Geschichte nie ab ins Lächerliche. Zu schwer ist die Substanz: Verschwörungstheorien paranoider Opfer und Täter, Historie kommunistischen Terrors, Legenden von vergewaltigten Schwestern und auferweckten Toten – Kadare formt es zu einer homogenen, lehmig-braunen Masse, um daraus seinen Roman gleich einem Golem auferstehen zu lassen. Dessen schaukelnde Bewegungen erzeugen Heiterkeit, doch sind sie oft nur Vorboten eines kräftigen Schlages, der durch die amoralische Zufälligkeit erst seine volle Grausamkeit erhält.
Es ist ein wenig schade, dass das Buch gegen Ende dazu tendiert, vieles des Grotesken und Legendenhaften auch dort ins Rationale zu überführen, wo man es vielleicht besser im Schummerlicht der Imagination gelassen hätte. Dennoch kann es zur Lektüre nur empfohlen werden: Bis in den letzten Satz hinein trägt es die Handschrift Kadares, der gekonnt Musil’schen Möglichkeitssinn mit kafkaesken Albträumen verbindet.
Ismail Kadare: Ein folgenschwerer Abend.
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
Ammann Verlag 2010, 208 Seiten, 19,95 €
Links zum Thema
– Informationen des Ammann Verlages zu Ismail Kadare
– Video: Gespräch mit Ismail Kadare im Schweizer Fernsehen
– Homepage des Übersetzers
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