von fabian
Recht hilflos laufen wir durch den Jenaer Paradiespark und halten Ausschau nach ihnen, als befänden wir uns auf einer morgendlichen Orchideenwanderung. Was machen wir eigentlich, wenn wir einen finden? „Hallo wären sie dazu bereit uns für einen Artikel ihre Lebens und Leidensgeschichte auszubreiten? “ Setzen wir uns neben ihn auf die Parkbank und halten ihm das Diktiergerät vor die Nase? Werden wir nach dem Interview noch schnell ein paar Fotos machen und uns dann mit den besten Wünschen für die Zukunft verabschieden? Ein Artikel über Obdachlosigkeit in Jena sollte es werden, doch das ist einfacher gesagt als getan.
Was ist ein Obdachloser? Sind es jene Rumänen, die mit traurigen Blicken Geld für die Herzoperation ihrer kurdischen Verwandten sammeln?
Sind es die professionellen Bettler, die angeblich nach der Arbeit ihren Mercedes besteigen? Sind es Aussteiger, die auf der Suche nach einem alternativen Lebensstil zu urbanen Alm-Öhis werden? Sind es vollgeschissene Alkoholiker, die vor Discountern apathisch vor sich hinvegetieren?
Sind Obdachlose, Menschen, die so viel verloren haben, dass sie es nicht mehr schaffen, das Wenige, was sie noch haben, zu bewahren?
Obdachlose gehören in Jena nicht zum alltäglichen Straßenbild. 10-15 Obdachlose gibt es in Jena, je nach Definition auch mehr oder weniger. Ein paar unbezahlten Rechnungen, ein langsam überquellender Briefkasten. So
beginnt nach außen hin die klassische Obdachlosigkeit.
Plötzlich steht der Gerichtsvollzieher vor der Tür und stößt sie auf in Richtung einer Welt, die man vorher höchstens schnorrend auf dem wöchentlichen Einkaufsbummel wahrnahm. Wennman will, kann man
für wenige Euro einen Schlafplatz in einem der beiden Jenaer Obdachlosenheime beantragen.
Man durchläuft den Gesundheitscheck, beantragt bei der ArGe
finanzielle Unterstützungund begibt sich in das Jenaer Netz aus kommunalen
und privaten Hilfs- und Unterstützungseinrichtungen, die beispielhaft
sind für viele andere Städte. Oder man tut es nicht, weil selbst das Ausfüllen der nötigen Formulare zu anstrengend, der Anruf beider Familie zu peinlich, das Gespräch mit einem Sozialarbeiter zu intim sein kann. Doch weil die Welt
zwischen Verzweiflung und radikaler Unabhängigkeit keine Institutionen
kennt, begeben wir uns in dieses Netz, sprechen mit Bediensteten, Beamten und Beauftragten.
Doch egal mit wem wir reden, immer haben wir das Gefühl, mit jeder Nachfrage ein neues Klischee zu bedienen. „Ja, klar schauen viele auf Obdachlose herab. Oft sind dies aber auch Menschen, die noch weniger
Geld haben und trotzdem ihr Leben meistern“, erzählt uns der Leiter eines Obdachlosenheims. Und genauso gebe es auch jene, die es im Leben geschafft haben, deren Frau nicht eines Tages mit Kindern und gepackten Koffern die Tür hinter sich zuzog, deren Arbeitsplatz nicht wegrationalisiert wurde und die nun für ihre alten Kollegen anonym ein paar neue Klamotten im Obdachlosenheim abgeben.
Schließlich müssen wir feststellen, dass diese homogene Subkultur, über die wir schreiben wollten, so wohl gar nicht existiert. Obdachlose sind Menschen, die von mehr Geld leben als eine alleinstehende Frau mit drei Kindern und Hartz IV und es sind Menschen, die sich gegenseitig für einen Euro die Zähne ausschlagen. Es sind Frauen, die nach Werkschließung und Zwangsräumung plötzlich allein auf der Straße stehen und Männer, die vor
zwei Jahren noch glücklich mit ihrer Familie um den Weihnachtsbaum
saßen und die nun im Winter Angst haben müssen, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen.
Es sind Lehrer, Migranten, Lebenskünstler, Vorarbeiter, Alkoholiker und chronisch Kranke. Es sind Menschen, die verzweifelt sind und Menschen, die aufgrund ihrer Gerissenheit jeden Sozialarbeiter zur Verzweiflung bringen, es sind Abzocker und Abgezockte, Menschen, die allein nicht mehr fähig sind zu leben und Menschen, die nie fähig und willens wären ein anderes Leben
zu leben.
Schließlich erblicken wir auf unserer Orchideenwanderung doch noch, versteckt unter einer zwischen zwei Ästen gespannten Plastikplane, einen Mann, der säuberlich seine Wäsche zusammenlegt. Eine Weile warten wir und überlegen, was zu tun ist, um schließlich doch vorbei zu gehen. Und so bleibt unsere Wanderung eine fiktive Bestandsaufnahme realer Menschen, ein Konzentrat aus Erzählungen, Statistiken und Hörensagen, gesammelt auf Ämtern, bei Zeitungsverkäufern und Sozialarbeitern. Es war der Versuch, sich einem Phänomen zu nähern, ohne sich ihm hinzugeben, ohne zu wissen, ob dies nun dem Respekt vor dem Mythos einer abgeschotteten, exotischen Parallelwelt geschuldet ist oder der Angst davor diesen Mythos zu zerstören.
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