Journalismus – oder die Beschreibung der Schwebeteilchen

von Thomas Honegger, Professor der anglistischen Mediävistik an der FSU


Einer meiner Geschichtsprofessoren beschrieb den Unterschied zwischen Journalismus und Geschichtsschreibung vor mehr als drei Jahrzehnten mit folgendem Vergleich:

„Journalismus ist, bildlich gesprochen, die Beschreibung der Schwebeteilchen, wie sie im Fluss der Ereignisse zu beobachten sind. Ihre Richtung kann sich noch verändern – auch gerade aufgrund der Beobachtung durch die Medien. Geschichte hingegen beschäftigt sich mit den Sedimenten, die sich aus den abgelagerten Schwebeteilchen gebildet haben und sich nicht mehr verändern.”

Dieser bildhafte Vergleich zeigt einen wichtigen Aspekt des ursprünglichen Journalismus auf, der sowohl eine seiner Stärken wie auch Schwächen darstellt: die Fokussierung auf die tagesaktuellen Geschehnisse. Nicht umsonst trägt der Journalismus dieses Element immer noch in seinem Namen. Abgeleitet vom französischen Adjektiv journal = ‚täglich, jeden Tag betreffend‘, bezeichnete das Nomen Journal dann auch zuerst einen ‚Bericht über Tagesereignisse‘. Die deutsche Entsprechung, die Tageszeitung, ist ein Kompositum, das im ersten Teil den Tagesaspekt explizit macht und mit der ‚Zeitung‘, dem allgemeineren Wort für ‚Botschaft, Nachricht‘ kombiniert. Der Begriff ‚Zeitung‘ hat ein Gegenstück im englischen tiding(s), das soviel wie ‚Ereignis, Nachricht‘ bedeutet und auf das altenglische tîdung zurück geht. Dieses wiederum ist verwandt mit dem Verb tîdan, welches mit ‚vor sich gehen, ereignen‘ übersetzt werden kann. Die ‚Zeitung‘ ist also der Bericht über das, was vor sich geht und in einer Tageszeitung sind logischerweise ‚tagesaktuelle Nachrichten‘ zu erwarten.
Viele der europäischen Sprachen haben zwar den Tagesaspekt des Journalismus in der Berufsbezeichnung (cf. engl. journalist, schwed./norw./dän. journalist, ital. giornalista, franz. journaliste, port. jornalista etc.), oder auch im Begriff, der das ‚Journalismusprodukt‘ – also die Zeitung – bezeichnet: ital. giornale, franz. journal, port. jornal. Es gibt jedoch auch europäische Sprachen, die für die Zeitung ein Wort haben, das sich aus einem alternativen Zusammenhang herleitet. Das Paradebeispiel ist natürlich das englische newspaper (oder news), die den semantischen Kern des Inhalts explizit im Wort verankert. Beim span. periódico ist der Zusammenhang zwischen dem Begriff und einer zentralen Eigenschaft des Produkts, nämlich seine periodische (tägliche) Publikation, auch noch offensichtlich. Die italienische gazzetta (und wohl auch das poln. gazeta) hingegen ist nicht auf den ersten Blick erklärbar und man muss die Geschichte der venezianischen Druckerzeugnisse kennen, um die Antwort zu finden. Anscheinend war gazeta ursprünglich eine venezianische Münze, die dem Preis des Nachrichtenblatts entsprach – und später als Bezeichnung für das Nachrichtenblatt selbst übernommen wurde. Etwas näher am Aktualitätsaspekt ist das niederländische Wort für Zeitung: krant. Es leitet sich aus dem französischen courant (‚laufend, aktuell‘) ab, das sich als Substantiv auch in Zeitungsnamen wie Corriere della Sera (Mailand), Le Courrier (Genf) oder Kurier (Österreich) wiederfindet und noch auf die ursprüngliche Verknüpfung der Zeitungen mit den Meldeläufern (= Kurieren) hinweist.

Im Zeitalter von X und Instagram sind es jedoch nicht mehr die Meldeläufer, die die Nachrichten überbringen. Im Sekundentakt prasseln die news ungefiltert darnieder und konkurrieren miteinander um die Aufmerksamkeit der Leser:innen. Was wir hier haben, ist nicht mehr Journalismus, sondern Secondismus oder Momentismus. Es sind nicht mehr die eher gemächlich vor sich hintreibenden Schwebeteilchen, sondern die wild ausschlagenden Elementarteilchen, die Gegenstand der Betrachtung sind. Damit nimmt der traditionelle Journalismus in der heutigen Medienlandschaft eine neue und wichtige Position zwischen der Geschichtsschreibung und den neuen Medien ein, indem er eine reflektierte Darstellung, Einordnung und Kommentierung der Tagesereignisse bietet – und so einerseits seinem Namen gerecht wird, ihn anderseits mit neuem Sinn füllt und zu mehr macht als die Beobachtung von Schwebeteilchen.


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