Journalismus als Massenpädagogik

Aus älteren Filmen oder Serien kennt man die typische Familiensituation eines beim Frühstück Zeitung lesenden Vaters. Dieses Bild mag Vorbildcharakter gehabt haben und reflektiert wohl Hegels Spruch „Zeitunglesen ist das Morgengebet des modernen Menschen.“ Doch der heutige Journalismus muss sich seit Jahren um die Aufmerksamkeit der Leserschaft und damit um seine eigene Existenz bemühen, und weicht dafür immer mehr auf pädagogische Mittel aus, die unerwünschte Effekte hervorbringen.

von Dennis Pieter


Es gibt Tendenzen im heutigen Journalismus hin zu einer Art Massenpädagogik. Die Tagesthemen haben vor nun über 45 Jahren die Rubrik des „Kommentars“ zur Einordnung von zu pointierenden Nachrichten eingeführt, dessen Name sich seit 2020 übrigens zu „Meinung“ geändert hat. Vor allem im Onlinebereich gibt es immer mehr „Erklär“-Formate, die vorgeben, ihre so schon unmögliche Position der Neutralität in der Einordnung weiterzuführen. Eine besonders katastrophale Zeit für den deutschen Journalismus war die Zeit zwischen 2015 und 2017, als Terrorberichterstattung, Trump-Wahl, Brexit und Geflüchtetenkrise bei hiesigen Journalisten nur selten zu dem Schluss führten, den Zuschauer auch mal allein lassen zu können. Nein, stattdessen gab es Formate noch und nöcher, konzeptlose Live-Berichte von willkürlich gewählten Orten und Personen, damit Oma Erna – nach eigenen Angaben die durchschnittliche Zuschauerin der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten: verrentet, alleinwohnend, ländlich –, damit also Oma Erna in der ruhigen Gewissheit einschlafen kann, dass sich schon alles regelt, oder aber, damit das Erregungspotenzial aufrechterhalten bleibt. Der vor Kurzem beendete Aufwachen-Podcast von Tilo Jung und Stefan Schulz verfolgte die Berichterstattung (nicht nur) des ÖRR seit 2015 intensiv und konnte unzählige Sendungen sammeln, die ein Scheitern des deutschen Journalismus vor einer komplexen Welt konstatieren. Die Zuschauerseite scheitert aber ebenso vor der Institution „Journalismus“, wie der unique-Skandal von 2009 zeigt – eine Einschätzung, die ich mit der damaligen Chefredaktion teile. Wie sich diese gegenseitig feindlicher werdende Beziehung zwischen massenpädagogischem Journalismus und Publikum zuspitzen konnte, kann womöglich durch einen Rekurs auf eine bestimmte Diskurstheorie plausibel gemacht werden.

Die Diskurstheorie des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan gehört zu dessen zentralen Theoremen. Das Wort „Diskurs“ bezeichnet dabei im Grunde ein soziales Band und wie es „gestrickt“ ist. Im Gegensatz zu Michel Foucaults Diskursanalyse sucht Lacan aber nicht nach der Omnipräsenz von Macht und/durch Wissen, sondern nach deren Scheitern. Es gibt nach Lacan immer etwas, das die bewusste bzw. manifeste Ebene einer Kommunikation untergräbt, und je nachdem, wie diese Untergrabung stattfindet, kann mit einer Aussage X auch schon mal ihr genaues Gegenteil beim Gegenüber ankommen. Hintergrund dieser Annahme ist die schlichte Tatsache, dass jede Kommunikation immer in die inhaltliche, also bewusste Aussage und in die formale, also unbewusste Aussageposition ge(ur)teilt ist. Ein gängiges Beispiel ist das Lügenparadox: Wenn ein Kreter sagt: „Alle Kreter lügen“, was ist dann die Wahrheit?
Lacan unterscheidet vier Diskurse, den des Herren, den der Hysterie, den der Universität und den des Analytikers, von denen ich nur den Universitätsdiskurs vorstellen möchte. Dieser versucht nicht nur strukturelle Mechanismen des akademischen Feldes zu beleuchten, sondern auch der Pädagogik, und repräsentiert in der Psychoanalyse gleichzeitig die psychische Struktur der Zwangsneurose.

Der Universitätsdiskurs nach Lacans Theorie der vier Diskurse.

Das einzig Selbstverständliche an Lacans Konzeption ist, dass im Universitätsdiskurs das Wissen S2 höchstpersönlich Autorität besitzt. Dass am Ort des Adressaten die Objektursache des Begehrens (a) zu finden ist, erschließt sich nur aus der Tatsache, dass wir unterhalb des Wissens, am Ort der verdrängten Wahrheit des Agenten, das Symbol der Macht S1 finden. Dadurch, dass S1 von S2 verdrängt wird (was durch den Bruchstrich gekennzeichnet ist), werden beim Adressaten hysterische Reaktionen $ produziert. Auf der linken Seite haben wir also die Strukturformel für den akademischen, pädagogischen oder zwangsneurotischen Agenten, auf der rechten Seite die Formel des vom Agenten gebrauchten und produzierten Adressaten oder – des Patienten, des Schülers oder Studenten.

Was bedeutet das alles konkret? In einem Arzt-Patient-Setting agiert das medizinische Wissen und adressiert den Anderen als anatomisches Phänomen. Der Arzt muss den Patienten, um seine Position als Wissenden zu rechtfertigen, auf etwas reduzieren, das zunächst rein medizinisch zu behandeln ist. In einem pädagogischen Setting muss der Pädagoge den Anderen als jemanden setzen, den es zu erziehen gilt. Im Universitätsdiskurs reduziert der Agent also den Patienten auf einen bloßen Erfüllungsgehilfen des eigenen Diskurses. Das müsste jener nicht tun, ginge es für ihn wirklich nur um die Übertragung oder Übermittlung von Wissen. Ein Pädagoge müsste sich ja stets selbst untergraben, sähe er ein, dass es keine objektiven Maßstäbe dafür gibt, jemanden als zu erziehend zu betrachten. Denn wenn der Andere nicht auf das Resultat objektiver und unhinterfragbarer Umstände reduziert würde, bräuchte es keine Pädagogik, die die Setzung objektiver Kriterien vor allem zur Sicherung der eigenen Legitimität braucht. Der Pädagoge, der Arzt usw. setzt sich also nicht als Wissenden – das wäre bereits ein Zuviel an Subjektivität –, sondern als das Wissen höchstselbst, muss dafür aber eben die eigene, subjektive Machtposition verdrängen, die zur Stabilisierung jeglicher ideologischer Wissensgebäude nötig ist.

„Wissen ist Macht“ ist zwar ein nerviger Satz von schmierigen Twitter-Edgelords, aber er wird doch nicht von ihnen in seiner Wahrheit erkannt, sobald sie mit Mansplaining beginnen. Durch Letzteres wollen sie nicht so sehr ein Wissen mitteilen, sondern ihre Erhabenheit. Mansplaining ist ein Zeugnis der Spaltung von Wissen und Macht, nicht ihrer Einheit. Und jeder und jedem fällt mittlerweile auf, wie unattraktiv und lächerlich diese Spaltung ist. Mansplaining – ein Phänomen, zu welchem übrigens alle Geschlechter in der Lage sind – besitzt aus lacanianischer Perspektive also dieselbe Struktur wie der Diskurs der Wissenschaft, der Pädagogik, des (schlechten) Journalismus.
Es gibt auch positive Seiten dieses Diskurses: Kann sich das zum Patienten reduzierte Gegenüber mit dieser vom universitären Agenten fabrizierten Position identifizieren, erscheinen Effekte, die die empirische Psychologie als Placebo-Effekt erkannt hat. Doch üblicherweise verwickelt sich der Patient auf dramatischere Weise in diesen toxischen Diskurs. Ist die Geschichte der Interaktion zwischen Berichterstattung und AfD nicht genau so eine?

Die durch den unique-Skandal provozierte Debatte brachte uns keine neuen Erkenntnisse über den Umgang mit Rechtsextremisten, außer dass Rechtsextremisten wohl eine Bevölkerungsgruppe darstellen, mit der man „umgehen“ muss […].

Gehen wir dafür kurz in die Vorgeschichte: Anfangs, 2013, als die AfD off ensichtlich eine Anti-EU-Partei war, wurde sie von Politikwissenschaftlern als liberal-konservativ angesehen, was die (neo-)liberale „Mitte“ empörte. Schließlich gilt seit den 1990ern nur diejenige Politik als „vernünftig“ (eine Lieblingsvokabel des Universitätsdiskurses), die Globalisierung, Liberalisierung und Deregulierung in technokratischer Manier durchzusetzen versucht. CDU, FDP, SPD und Grüne formulieren diese Ziele zwar nicht unbedingt in ihren Wahlprogrammen, es reicht aber, sich dieser Ziele in ihrer tatsächlichen Regierungsarbeit zu vergewissern. Die Linke stimmt einer Liberalisierung kultureller Normen zu, aber weder Globalisierung noch Deregulierung werden ihrerseits befürwortet – womit die Linkspartei natürlich „unvernünftig“ ist. Die AfD als liberal-konservative Partei hatte durchaus die Hoffnung, Teil des wirtschaftsliberalen Mainstreams zu werden, wollte die damit verbundenen Ziele aber nicht durch Globalisierung oder Liberalisierung, sondern ausschließlich durch Deregulierung (der EU-Richtlinien, des Bankensektors, der Vertragsfreiheiten, usw.) erreichen. Sie wurde recht schnell als „Schmuddelkind“ bezeichnet (Tagesspiegel und Frankfurter Neue Presse, 2016). Kein Wunder: Wenn jenes Kind im Sandkasten, das dasselbe Spielzeug haben möchte, laut den anderen Kindern dieses Spielzeug „falsch“ benutzt, dann sieht sich Ersteres mit zweierlei konfrontiert: Es muss zunächst verstehen, dass die anderen Kinder ein Wissen zu besitzen behaupten, das definiert, wie ein Ding zu benutzen ist und wie nicht, und daraus folgend muss es verstehen, dass dieses Wissen der anderen einen selbst zu belehren imstande glaubt. Die AfD hat eine bis dato nicht gefüllte Lücke im politischen Spektrum besetzt, sorgte also für einen politischen Zwischenfall innerhalb der technokratischen Wüste der sogenannten ideologiebefreiten Marktgläubigkeit und musste recht schnell erfahren, dass Politik hier unerwünscht ist. (Dasselbe ist der Linkspartei sechs Jahre zuvor passiert.) Die AfD ist den Parteien von CDU bis Grüne sehr viel näher als auch von medialer Seite behauptet und musste daher einen umso stärkeren Widerspruch zwischen rhetorischer Oberfläche und eigentlich gemeinsamen Zielen feststellen. Die Technokratie entpuppt sich aus dieser Position der „Unvernunft“ heraus als eine selbstständige Ideologie, die den eigens genutzten Begriff der Vernunft nicht einzuholen imstande ist.

ZEIT Online (Titel: „Eine beinahe sehr wichtige Partei“) fing nach der Bundestagswahl 2013 womöglich unabsichtlich mein zentrales Argument ein:

„Deswegen kamen Journalisten aus Japan, Großbritannien, der ganzen Welt, um dieser Partei unbescholtener, aber diskriminierter Bürger (Selbstbild) und latenter, intoleranter Rechtspopulisten (Fremdbild) dabei zuzusehen, wie sie gegen das ganze Komplott von Medien und etablierten Parteien dem Bürgerwillen Geltung verschafft (Selbstbild). Und sich mit rechtspopulistischen Baggereien an den Rand der Fünfprozenthürde hievt (Fremdbild). Seit ihrer Gründung im April dieses Jahres hat sich die AfD immer tiefer in ihre eigene Welt vergraben. Man konnte das gut auf ihren Wahlkampfveranstaltungen beobachten. Das argumentative Besteck der AfD ist die verborgen gehaltene Studie, das geheime Dossier – das geteilte Gefühl, dass etwas vor uns allen geheim gehalten wird. Deswegen können Politiker, die es ehrlich meinen, auch kaum anderer Ansicht sein als die AfD. Sind sie es doch, sind sie entweder unwissend oder unehrlich.“

Was der AfD als Geheimhaltung vorkommt, ist nichts als das, was der universitäre Agent sich selbst nicht einzugestehen vermag: dass er nämlich ein angeblich objektives Wissen vorschiebt, um eine soziale Machtposition zu verteidigen. Die Reaktion der AfD ist – hysterisches Geschrei, das immer absurder und faschistischer wurde, solange ein Diskurswechsel, weg von der Massenpädagogik, nicht unternommen wurde und wird. Damit will ich den „Lügenpresse“-Vorwurf keineswegs relativieren, geschweige denn rechtfertigen. Es geht mir hier darum, eine Dimension dieses Diskurses zu eröffnen, die zeigt, auf welche Weise alle aneinander vorbeireden. Wenn auf den ersten Parteitagen der AfD noch ein Demokratiedefizit angesprochen wurde, dann hatten sie mit Blick auf die post-politische Technokratie einen Punkt.
Die durch den unique-Skandal provozierte Debatte brachte uns keine neuen Erkenntnisse über den Umgang mit Rechtsextremisten, außer dass Rechtsextremisten wohl eine Bevölkerungsgruppe darstellen, mit der man „umgehen“ muss, und dass größere Medien wie ZEIT oder Deutschlandfunk sich dazu autorisierten, zu entscheiden, wer und wer nicht mit ihnen „umgehen“ darf. In diesem Sinne war der unique-Skandal eines der Phänomene, an denen sich zeigte, dass der massenpädagogische Journalismus selbst Politik macht.

Mit Hegel begann ich, mit Hegel möchte ich enden. In einem Brief an Karl Ludwig von Knebel vom 30. August 1807 schreibt Hegel über seine Erfahrungen als Chefredakteur der Bamberger Zeitung, der er von 1807 bis 1808 war:

„Sie wissen auch, daß ich immer einen Hang zur Politik hatte. Dieser hat sich aber beim Zeitungsschreiben vielmehr geschwächt, als daß er dadurch Nahrung gefunden hätte. Denn ich habe hierbei die politischen Neuigkeiten aus einem andern Gesichtspunkte anzusehen als der Leser; diesem ist der Inhalt die Hauptsache, mir gilt eine Neuigkeit als Artikel, daß er das Blatt füllt. Die Verminderung des Genusses, den die Befriedigung der politischen Neugierde gewährt, wird jedoch durch anderes ersetzt, das eine ist der Ertrag, — ich habe mich durch Erfahrung von der Wahrheit des Spruches in der Bibel überzeugt und ihn zu meinem Leitstern gemacht: Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen; — das andre ist, daß der Zeitungsschreiber selbst ein Gegenstand der Neugierde und fast des Neides ist, indem jedermann das zu wissen wünscht, was dieser noch in petto behalte, was, wie man versichert, das Beste sein soll […].“

Hegels Erfahrung ist die der Eigendynamiken des Journalist-Seins. Aber er erzählt auch davon, dass Journalist zu sein, etwas mit der subtilen Machtposition zu tun hat, die durch die Beschäftigung mit „Fakten“ erwächst. Diese Machtposition kann man dann mit dem Wort „Verantwortung“ verklären. Man kann es aber auch lassen.


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