Die Presse muss neutral sein – So ein Quatsch!

Hier geht es zum Leitartikel der Ausgabe 100.

von Eva Haußen


Als ich das erste Mal als freie Redakteurin für eine Lokalzeitung gearbeitet habe, bekam ich von meiner Chefin den Auftrag, über eine Jubiläumsfeier in einer alten Kaserne zu schreiben. Einen netten Artikel über Kinderschminken, Bratwurstverkauf und einmal Panzer fahren. Die Kasernenanlage wurde zur NS-Zeit als eine der modernsten Luftwaffenanlagen gebaut und diente während des Zweiten Weltkriegs u.a. als Kriegsgefangenenlager, so zumindest ergab es eine schnelle Wikipedia-Recherche. Über ein lustiges Luftballonfest wollte ich nicht schreiben. Die Antwort der Redaktion damals lautete, als Journalist*innen nehmen wir Abstand von unseren politischen Positionierungen, wir müssen neutral sein.

Ich denke: Journalist*innen zeichnen ein Bild von einer Situation. Sie bilden einen Teil der Wirklichkeit ab, aus einem gewissen Blickwinkel, mit einer gewissen Einfärbung, und einen Teil zeigen sie nicht. Neutraler Journalismus ist eine Illusion und es ist die Frage, ob er überhaupt das Ziel ist. Das Kriterium Neutralität taucht nicht an einer Stelle im offiziellen Pressekodex auf. Das wirft die Frage auf, über was auf welche Weise geschrieben werden darf, soll, kann. Eine Frage, die sich Journalist*innen immer wieder aufs Neue stellen müssen.
Wer für Studierende schreibt, schreibt für ein mündiges, gebildetes, meist auch linkes Publikum: Es ist wichtig, sich nicht im Honigtopf der identitätslinken Statements zu verlieren und hinter „I‘m a feminist“-Shirts zu verstecken; Artikel sollen einladen weiterzudenken. Es ist aber auch wichtig, Positionen, die die Menschenwürde anderer verletzen, kritisch einzuordnen, zu kommentieren und zu hinterfragen. Interviews müssen journalistisch aufbereitetet werden. Das heißt nicht, die Antworten der Interviewpartner*innen zu zensieren oder den Leser*innen vorzuschreiben, wie sie diese aufzunehmen haben. Aber: Eine Position einfach nur zu Wort kommen zu lassen und „objektiv“ darzustellen, begriffen als eine neben vielen, ist nicht zielführend. Das läuft letzten Endes auf einen Meinungsrelativismus hinaus. Journalist*innen haben durch verschiedene journalistische Textformen die Möglichkeit, andere Personen in ihren Texten direkt sprechen zu lassen, Werkzeuge, um ähnlich wie in einer historisch-kritischen Ausgabe Meinungen kritisch zu beleuchten und auf rhetorische Mittel und Manipulationen von Gesprächspartner*innen aufmerksam zu machen. Journalismus kann und darf nicht neutral sein. Journalismus soll aber eben auch keine normative Instanz sein, die über richtig und falsch richtet.

Es ist nicht zielführend, zu fragen: Über Nazis schreiben, ja oder nein? Sondern: Über Nazis schreiben, und zwar wie und mit welchem Ausblick für unser gesellschaftliches Zusammenleben? Auf welche Weise kann man sich mit menschenfeindlichen, einen anwidernden Meinungen auf eine produktive Weise auseinandersetzen? Das Spannende und Herausfordernde am journalistischen Arbeiten ist, dass sich die Frage nach der „richtigen“ Berichterstattung niemals vollständig beantworten lässt und immer wieder zum Nachdenken veranlasst, wie es auch das Produkt des Journalismus tut. Über das Fest in der Kaserne hätte ich gerne geschrieben, nur nicht auf diese Weise – die nicht neutral, sondern einem immer schon ideologisch gefärbten Begriff von Journalismus verpflichtet wäre.


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