Hyperpolitik und die Letzte Generation

Im Oktober 2023 erschien im Surkamp-Verlag der Essay „Hyperpolitik“ des Ideenhistorikers Anton Jäger. Darin beschreibt er die Hyperpolitik als eine neue Form der Öffentlichkeit, in der eine starke Politisierung der Gesellschaft einhergeht mit einer geringen (und immer geringer werdenden) Institutionalisierung der Politik. Dabei kommt es zu keiner Verfestigung politischer Strukturen und die extreme Politisierung bleibt (meist) folgenlos. Es entstehen Kulturkämpfe um bestimmte Streitfragen, welche im Fernsehen, in Printmedien und über Social Media ausgetragen werden, aber sofort wieder in Vergessenheit geraten, sobald das neueste Aufregerthema die Runde durch den Medienzirkus macht.

von Sebastian Baum


Somit ist Jägers Arbeit, wenn auch vielleicht nicht so intendiert, eine scharfe Kritik am Medienspektakel. Eine Teilnahme an den Kulturkämpfen fühlt sich nach politischem Aktivismus an (theoretisch ist sie es auch); man hat das Gefühl, für etwas einzutreten, eventuell Teil einer Bewegung zu sein, doch letztlich bleibt es nur bei dem Gefühl. Das Engagement ist kurzfristig, kann sich auch stark entladen, wie etwa bei den Black Lives Matter-Protesten aufgrund der Ermordung George Floyds, bleibt aber folgenlos. Das ist typisch für Hyperpolitik: Es kam zwar zu weltweiten Solidaritätsbekundungen und riesigen Protestmärschen, doch es hat sich seitdem nichts an der Brutalität der amerikanischen Polizei gegenüber Schwarzen geändert, noch wurde sonst irgendwie das Leben der Afroamerikaner verbessert. Nach dem Sommer 2020 verlief sich das Thema einfach wieder, weil sich daraus keine festen politischen Strukturen wie Vereine oder Parteien gebildet haben. Es blieb beim Hashtag und dem T-Shirt, Influencer konnten das Thema für Posts ausschlachten, um billig Solidarität zu bekunden und Likes zu generieren, aber alles nur so lange, bis das nächste Thema die öffentliche Aufmerksamkeit für sich einnahm (im Fall George Floyd etwa der amerikanische Wahlkampf 2020 und die Erstürmung des Kapitols am 6.1.2021).
Die fast wöchentlichen Aufrufe zu verschiedenen (Online-)Petitionen funktionieren ähnlich, sie erzeugen das Gefühl einer politischen Teilhabe, obwohl sie sehr selten irgendwas bewirken. Denn so einfach ist es natürlich nicht – für wirkliche Veränderungen braucht es mehr Engagement als die Bereitschaft dazu, eine Unterschrift zu setzen.

Kurzlebigkeit statt fester Strukturen

Hauptsächlich sieht Jäger das Problem eben in der Kurzlebigkeit des politischen „Engagements“. Dazu zieht er Vergleiche zur Zeit der Massenpolitik, welche er etwa von 1848 bis in die 1970er hinein verortet. Diese zeichnete sich ebenfalls durch eine hohe Politisierung der Gesellschaft aus, welcher dann aber auch eine hohe Institutionalisierung und konkrete Errungenschaften folgten. Viele Dinge, die wir heutzutage als gegeben ansehen, wurden in dieser Zeit erkämpft: allgemeines Wahlrecht, 8-Stunden Arbeitstag, Urnenbestattung, Rede- und Pressefreiheit, Abschaffung der Adelsvorrechte, Versammlungsfreiheit und die sexuelle Befreiung. Eine Rolle spielten dabei Parteien und Gewerkschaften, die ihren Mitgliedern feste Strukturen und Möglichkeiten, wie etwa Arbeiterschulen, gesellige Treffpunkte, Sportvereine und Jugendorganisationen boten und dafür mit einer lebenslangen Verbundenheit ihrer Mitglieder und der vertretenen Gruppen rechnen konnten. In seinem Essay zeigt Jäger auf, dass die Mitgliedschaft in Parteien bis in die 1970er noch viel höher war als heutzutage. Sie nahm jedoch seit den 80ern kontinuierlich ab, was unter anderem mit dem Aufstieg des Neoliberalismus und der Antipolitik, also einem generellen Misstrauen gegenüber politischen Institutionen und einem Rückzug ins Private, erklärt wird. Das Leben muss seitdem flexibler gestaltet werden, die Erwerbsbiografie ist nicht mehr vollständig von einem einzelnen Arbeitgeber bestimmt, Arbeitsverträge sind befristet, der Wohnort wird gewechselt, man muss sich immer wieder ein neues Umfeld schaffen und dazu gehören auch Parteien und Vereine. Diese kurzlebigen Strukturen setzen sich im politischen Engagement fort. Der Austritt fällt leicht (Jäger spricht von gesunkenen „Exit-Kosten“), vor allem, da die Parteien und Gewerkschaften sowieso keine gesellschaftlichen Angebote in dem Umfang mehr machen (und ehemalige Arbeiterparteien nun „Parteien der Mitte“ sein wollen).
Einen falschen Ersatz für die Massenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts boten dann in der Zeit der Postpolitik das Internet und die sozialen Medien, welche im Nutzer das Gefühl erwecken können, dass man tatsächlich mit der ganzen Welt verbunden ist und sich selbst über weiteste Entfernungen Interessengruppen bilden lassen. Letztlich verstärkten sie aber nur die Weitläufigkeit und Kurzlebigkeit der Medienzyklen. Nun kann und muss der sich Einzelne, wie Jäger es selbst im Essay beschreibt, zu Themen äußern, die vor einigen Jahrzehnten nur Diplomaten und Außenpolitiker betroffen hätten. Nun steht man persönlich in der Pflicht, etwa im Ukraine- oder Gaza-Konflikt, eine Stellung zu beziehen, egal wie unqualifiziert man für so eine Einschätzung eigentlich ist – denn den meisten Menschen, auch universitär gebildeten, fehlt dazu das konkrete historische Hintergrundwissen und die Lebenserfahrung in den jeweiligen Konfliktregionen. Profisportler müssen Statements und symbolträchtige Gesten in den Medien abgeben und Konzerne nutzen Bewegungen und eine Bildsprache der Vielfalt oder der Rebellion für virales Marketing (siehe Pepsi), anstatt die Vorzüge ihres Produktes zu bewerben und treiben die leere Politisierung weiter voran. Diese Überforderung führt zur übermäßigen Polarisierung auf der einen Seite und zu totalem Ressentiment auf der anderen Seite.
Anton Jägers Thesen sind nicht unumstritten. Die Lektüre seines Essays und verschiedener Rezensionen lässt erkennen, dass vor allem die Belege seiner Behauptungen etwas zu wünschen übriglassen und deren Interpretation recht einseitig ist. Teilweise scheinen sie, wie auch in der Zeit-Online Rezension von Matthias Warkus erwähnt, nur „gefühlte Wahrheit“ zu sein. Dies räumt Jäger auch selbst ein, wenn er etwa auf Seite 16 und 17 ein Schaubild zur Politisierung und Institutionalisierung im historischen Verlauf kommentiert:

„Für den Übergang von der Post- über die Anti- zur Hyperpolitik kann kein harter mathematischer Beweis erbracht werden […] Schaubild 1 ist daher keine exakte Darstellung der historischen Realität, sondern ein eher intuitives Diagramm, das Fragmente existierender Graphen – unter anderem zum gewerkschaftlichen Organisationsgrad, zu Attentaten und regierungsfeindlichen Kundgebungen – synthetisiert und in erster Linie der Illustration des zentralen Gedankens dient.“

Letztlich kann man von einem knapp 140 Seiten langen Essay auch nicht die Beweisführung einer Habilitationsschrift erwarten – eher sollte man sein Werk als Zündfunken für komplexere Forschung in diese Richtung ansehen. Des Weiteren könnte man das Konzept der Hyperpolitik besonders als Tool der medienkritischen Betrachtungsweise heranziehen – etwa im Fall der Medienwirksamkeit der Letzten Generation.

Mit langsamem Bohren gegen fossile Brennstoffe

Abhilfe aus der Hyperpolitik kann nur langwierige politische Arbeit schaffen, die eine Institutionalisierung voraussetzt und in Jahrzehnten statt in Legislaturperioden denkt, das, was Max Weber als „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ bezeichnete. Die Leidenschaft ist in der hyperpolitischen Aktivität offensichtlich vorhanden, doch vor allem im Generationenprojekt der Energiewende wäre es nötig, auf lange Sicht hin Strukturen der Veränderung zu bilden, welche den Großteil der Gesellschaft mitnehmen, ohne dass einkommensschwache Schichten zurückgelassen oder angefeindet werden.
Unter dem Stichwort Umweltschutz soll nun der Blick auf die hypermediale Berichterstattung um die Letzte Generation geworfen werden: Seit Ende 2022 und bis in den Sommer 2023 hinein wurden die Aktionen dieser Gruppe, vor allem das Festkleben auf den Straßen, zum Nummer eins Aufregerthema in den Medien, während es in den letzten Monaten still geworden ist um die „Klimakleber“. Die Bauernproteste und Gewerkschaftsstreiks sind an ihre Stelle getreten. In (Polit-)Talkshows mussten sich die Sprecher der Letzten Generation gegen eine Überzahl von Gegenstimmen verteidigen, wurden am Tod einer Person schuldig gemacht, und wurden teilweise einer, nicht mehr im Maße zu ihren Taten stehenden, Strafverfolgung ausgesetzt. Man hatte durch Umfragen und die Berichterstattung das Gefühl, dass sie mit ihren Aktionen das ganze Land lahm gelegt haben – wenn sie auch im Vergleich zu den vielen Baustellen und Unfällen nur einen kleinen Anteil an den bundesweiten Staus trugen. Man sagte ihnen eine Polarisierung der Gesellschaft nach. Die eine Hälfte schien sie als Märtyrer im Auftrag des Umweltschutzes zu feiern, die andere hielt sie für faule Studenten, deren einziges Ziel es ist, den anständigen Bürger von der Arbeit abzuhalten und für Überstunden zu sorgen. Die Letzte Generation selbst wollte die ganze Gesellschaft für das Thema „Klimakrise“ aufrütteln, schreckte dabei vor Dramatisierung nicht zurück und wurde für kurze Zeit zum Staatsfeind Nummer eins – so würde zumindest eine Einschätzung der Situation aussehen, wenn man sich nur über Twitter-Threads, Springerpresse und Talkshows darüber informiert hätte. Fakt ist, die Aktionen der Klimaaktivisten haben auf den größten Teil der Gesellschaft keinerlei Auswirkungen gehabt. Trotz einer solchen Ankündigung wurde das Land nicht „lahmgelegt“ (Aktionen fanden sowieso nur in größeren Städten statt). Mit Suppe oder Farbe beworfene Kunstwerke waren nach wenigen Stunden schon wieder sauber (und wurden auch so gewählt, dass keine bleibenden Schäden entstehen). Ihre Effekte wurden medial so lange gepusht, bis selbst „Oma Erna“ eine (oft negative) Meinung zu ihnen hatte. Fakt ist aber auch, dass die Letzte Generation keine Veränderung zu Gunsten einer umweltfreundlicheren Politik erwirkt hat. Carla Hinrichs, ein bekanntes Mitglied der Organisation, argumentiert im Interview mit Tilo Jung, dass die Aktionen immerhin „Awareness“ für das Thema Umwelt erzeugt hätten, doch ist das Problem schon seit der Umweltbewegung in den 70ern in den Köpfen der Gesellschaft angekommen und spätestens seit Fridays for Future Programmpunkt aller großen Parteien mit Ausnahme der AfD. Das heißt, keine ernstzunehmende Partei kann sich mehr um das Thema Umweltschutz drücken, ohne einen Imageverlust zu erleiden. Man denke nur an den Wahlkampf 2021, der den Grünen ein Wählerhoch einbrachte und Zeugnis dafür ablegt, wie ernst die Wählerschaft den Klimawandel bereits vor dem Auftreten der Letzten Generation nahm. Awareness schuf man vor allem für die Gegenstimmen zum Umweltschutz, welche nun noch lauter Klimaaktivisten als realitätsferne Extremisten brandmarkten und dafür mehr Zuspruch bekamen. Unterm Strich kann man sagen: Mehr als ein Jahr voller Aktionen und aufgeheizter Berichterstattung zog keinerlei (positive) Folgen nach sich. Nun versucht die Letzte Generation einen Strategiewandel. Sie will die Klebeaktionen hinter sich lassen und stattdessen in den Wahlen für das EU-Parlament antreten, sich also wie eine Partei institutionalisieren. Ob dieser Zug einen Ausweg aus der hyperpolitischen Verdammung bringt, oder ob es sie in die „realpolitische“ Bedeutungslosigkeit treibt – das bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich könnte die Bewegung nur dann Erfolg tragen, wenn sie Webers Definition der Politik folgt und langsam, aber mit langem Atem, gegen die fossilen Brennstoffe bohrt.


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