von Thomas Honegger, Professor der anglistischen Mediävistik an der FSU
Als Experte des Werks von Professor J.R.R. Tolkien werde ich oft gefragt, ob ich die Darstellung von Gut und Böse in Der Herr der Ringe (1954-55) nicht als holzschnittartige Vereinfachung einer komplexen moralischen Realität empfinde. Meine Antwort ist meist, dass eben gerade die relative Vereinfachung einen Grund für die Anziehungskraft darstellt und die überzeitliche Wirkungskraft dieses Textes erklärt. Da wir in unserem familiären und beruflichen Alltag wie auch in der kleinen und großen Politik meist mit Grautönen konfrontiert sind, ist es für den inneren moralischen Kompass sehr hilfreich, wenn man von Zeit zu Zeit die Dinge mit eindeutiger Klarheit gespiegelt bekommt – wofür sich eben die Literatur der Phantastik als besonders geeignet erweist. Es war wohl kein Zufall, dass Auseinandersetzungen mit den Schrecken des Totalitarismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerade auch in Form von Fabeln oder Allegorien (z.B. Orwells Animal Farm [1945]), Dystopien (Orwells 1984 [1949]) oder eben epischer Fantasy wie The Lord of the Rings (geschrieben 1937-49, veröffentlicht 1954-55) geschahen. Literatur hilft, die Dinge klarer zu sehen.
Nun kenne ich zugegebenermaßen kein zeitgenössisches Schlüsselwerk, das den Blick auf die tragische Lage im Nahen Osten und den langwierigen Konflikt zwischen den verschiedenen Kulturen, Religionen und Ethnien in dieser Gegend klären könnte. Es gibt genügend politische Akteure, die mit ihrem jeweiligen Narrativ die komplexe Gemengelage in ein moralisch eindeutiges, einfach zu verstehendes und alle Zwischentöne ausblendendes Muster pressen möchten. Aber ein halbwegs objektiver Beobachter kann bei der Betrachtung der Gesamtlage die Grautöne nicht ignorieren – da helfen auch keine Erzählungen von kleinen Leuten mit Haaren auf den Füssen. Und dennoch findet sich zumindest im Ansatz eine Antwort in der Literatur. Auch diesmal geht es um einen Ring bzw. Ringe, nämlich in der Ringparabel in Gotthold Ephraim Lessings Theaterstück Nathan der Weise (1779).
Der weise Jude Nathan wird vom Sultan Saladin aufgefordert, die drei abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) zu vergleichen und zu bewerten, was dieser mit der berühmten Ringparabel tut und den Sultan zur Einsicht bringt, dass keine der drei Religionen einen absoluten Anspruch auf die alleinige Wahrheit erheben kann. Auch in der jetzigen Situation wünschte man sich einen ‚Nathan‘, dem auf der islamischen Seite ein ‚Saladin’ zur Seite steht, und dass die beide den weisen Spruch des Richters zu Herzen nehmen:
Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag
Zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hilf‘! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad ich über tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen
Als ich; und sprechen. Geht!