Kanntest du Gaza?

Terror, Unruhe, Bedrohung – viel mehr hörte ich in den letzten Jahren nicht über Gaza. Seit dem Oktober sind es Bilder von Elend, Armut und Tod, die täglich präsentiert werden. Der Küstenstreifen gleicht einem Trümmerfeld mit Resten grauer Betonbauten, zwischen denen Eltern nach ihren Kindern suchen. Ich war verblüfft, als ich erfuhr, dass dort bis vor wenigen Jahren ein vielfältiges kulturelles und intellektuelles Leben florierte. Nicht nur, dass dieses nun vollständig zerstört ist – das Leid der Bewohner*innen Gazas und die dort stattfindende Kulturzerstörung wurde jahrzehntelang von der internationalen Öffentlichkeit weitgehend verdrängt. Jetzt können wir live dabei zusehen, wie die Bevölkerung Gazas ausgehungert und vertrieben wird. Die israelische Regierung scheint darauf abzuzielen, die Palästinenser*innen in Gaza kulturell zu entwurzeln, ihre letzten noch verbliebenen Verbindungen zu ihrer Heimat zu kappen. Doch dieser Versuch ist möglicherweise zum Scheitern verurteilt…

von Aliena Kempf


Unbewohnbar

Bereits im Jahr 2015 warnte die UNO davor, dass der Gazastreifen bis 2020 unbewohnbar sein könnte, da eine humanitäre Katastrophe bevorstünde. Schon damals waren 80 Prozent der Bewohner*innen Gazas auf Hilfsorganisationen angewiesen, mehr als jeder Zweite war arbeitslos und die Jugendarbeitslosigkeit lag bei 60 Prozent. Junge Menschen in Gaza kennen nichts anderes als regelmäßige Bombeneinschläge auf Wohnhäuser, Krankenhäuser und Schulen, als den Anblick verstümmelter Menschen und Todesmeldungen. Ihr Leiden erhielt einen eigenen Begriff: „Gaza-Syndrom“, das Gefühl ständiger Unsicherheit und die Anhäufung von Traumata.
Spätestens Ende Januar dieses Jahres konnte die UNO ihre Prognose eindeutig bestätigen: Laut eines Berichts der Welthandels- und Entwicklungskonferenz macht das Ausmaß der Zerstörung ziviler Infrastruktur durch den derzeitigen Krieg den gesamten Gazastreifen de facto unbewohnbar. B‘Tselem, das israelische Informationszentrum für Menschenrechte, berichtet über die Hungerkrise im Gazastreifen: Im Dezember 2023 waren bereits 93 % der Bevölkerung Gazas von Hunger bedroht. Die Gefahr des Hungertods besteht für mindestens 500.000 Menschen. Die Prognose: steigend. „Even Death is Starving in Gaza“, beschreibt es der in Gaza lebende Dichter Mohammed Moussa.
In den ersten beiden Kriegsmonaten wurden 1,8 Millionen Menschen – 85 % der Bevölkerung – aus dem nördlichen Gazastreifen in den Süden nach Rafah vertrieben. Da Israel unmittelbar nach Kriegsbeginn den Verkauf von Elektrizität und Wasser an Gaza stoppte und das Kraftwerk in Gaza schließen ließ, besteht eine immense Wasserknappheit. Die Grundhygiene ist mangelhaft und Infektionskrankheiten können nicht ausreichend behandelt werden. Laut WHO sind derzeit mindestens 90 % der Kinder unter fünf Jahren von einer oder mehreren Infektionskrankheiten betroffen – die Kombination mit Hunger und Traumata ist tödlich. Um den Krieg wegen eines humanitären Kollapses nicht vorzeitig beenden zu müssen, ordnete der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am 19. November an, eine „minimale Notmenge an Kraftstoff“ für die Betreibung von Gazas Wasser- und Abwasserpumpen bereitzustellen, während die Siedlerbewegung bereits den Aufbau von sechs Siedlungen im Gazastreifen plante – begleitet von einer Rhetorik der Zwangsumsiedlung („Emigration“) von Palästinenser*innen.

Gaza in Folge der Nakba

Mit der israelischen Staatsgründung im Jahr 1947 begann für die Palästinenser*innen eine Geschichte des Leids, der Verluste und Vertreibung, die unter dem Na- men „Nakba“ („Katastrophe“) Eingang in das kollekti- ve Gedächtnis fand. Aus Sicht der Palästinenser*innen sind die neueren Entwicklungen eine tragische Zuspitzung der Nakba, die sie seit 1947 erleben, als im Zuge des Palästinakrieges 750.000 Menschen – die Hälfte der damaligen palästinensischen Bevölkerung – zu Flüchtlingen wurden. 200.000 von ihnen flohen nach Gaza, wo damals rund 80.000 Menschen lebten.
Nach dem Palästinakrieg besetzte Israel einen Großteil der damaligen Region Palästina, bis auf das Westjordanland, welches von Jordanien besetzt wurde, und den „Gazastreifen“, welcher fortan unter ägyptischer Verwaltungs- und Besatzungsmacht stand und nun seinen Namen erhielt. Aufgrund der Verdreifachung der Bevölkerungszahl – quasi über Nacht – sank der Lebensstandard der Bewohner*innen Gazas drastisch. Durch die vielen Flüchtlingslager verlor das landwirtschaftlich geprägte Gebiet einen Großteil seines Ackerlandes. Zudem wurde Gazas Hafen geschlossen, was wesentlich zum Einbruch der Wirtschaft beitrug. Ab 1950 nahm sich das Palästina-Hilfswerk UNRWA der Notlage der Flüchtlinge an, die überwiegend in offenen Zeltlagern in Zitrushainen lebten. Obwohl die ägyptische Militärverwaltung politische Aktivitäten weitgehend unterdrückte, bildeten sich Untergrundbewegungen der kommunistischen Partei und der Muslimbruderschaft, die vor allem in der Flüchtlingsgemeinschaft starke Unterstützung fanden. Ab 1960 wurden unter dem damaligen ägyptischen Ministerpräsidenten Gamal Abdel Nasr politische Aktivitäten erlaubt, woraufhin sich 1964 die palästinensische Befreiungsorganisation PLO und ihr militärischer Arm (PLA) im Gazastreifen gründeten.
Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 besetzte Israel den Streifen für die nächsten 38 Jahre. Um die palästinensische Widerstandsbewegung zu zerschlagen, wurden PLA-Kämpfer, Demonstranten und politische Persönlichkeiten inhaftiert, in den Sinai vertrieben oder nach Jordanien deportiert. Soziale und kulturelle Organisationen, auch Festivals, Ausstellungen und öffentliche Vorträge, wurden regelmäßig verboten oder ihre Finanzierung verhindert. Diese Beschränkung der politischen Kultur wird auch noch heute in den palästinensischen Autonomiegebieten praktiziert. Durch die vollständige Abhängigkeit von Israel konnte sich Gazas Wirtschaft nicht entwickeln. Die sich entfaltenden islamistischen Strukturen, aus denen 1980 die islamistische Widerstandsbewegung Hamas hervorging, wurden von der israelischen Regierung anfangs als ein willkommenes Gegengewicht zu der nationalistischen PLO betrachtet und als eine gemeinnützige Organisation gefördert. Da sich die PLO auf Verhandlungen um eine Zweistaatenlösung einließ, wurde die Hamas zur Fahnenträgerin des Widerstandes. Mit ihren ersten Militäroperationen im Jahr 1989 entstand eine blutige Spirale der Gewalt, die von den Palästinenser*innen bis heute deutlich höhere Opfer abverlangt.
Im Jahr 2005 beschloss die israelische Regierung die 21 israelischen Siedlungen im Gazastreifen zu räumen und das Gebiet der palästinensischen Autonomiebehörde zu überlassen. Die Hamas gewann die darauffolgenden Parlamentswahlen, setzte sich 2007 bei dem Kampf um Gaza gegen die Fatah – die größte Fraktion innerhalb der PLO – durch und regiert seitdem den Gazastreifen mit diktatorischer Gewalt. In unmittelbarer Reaktion erklärte Israel den Streifen zum feindlichen Gebiet und ließ die Treibstoff- und Stromversorgung herunterfahren, um die Hamas zu schwächen. Die bis heute andauernde Blockade des Wasser-, Land- und Luftraumes des Gazastreifens setzte ein – das endgültige Aus seiner Wirtschaft. Die Blockade beschränkt den Waren- und Personenverkehr sowie den Zugang zu Lebensmitteln, Medikamenten und Baustoffen. Sie wurde von der UNO immer wieder als Kollektivbestrafung der Zivilbevölkerung kritisiert, insbesondere Israels bürokratisch-genaue Bemessung der Lebensmitteleinfuhr nach dem minimalen Kalorienbedarf des Menschen – auch Schokolade, Chips und Koriander waren zeitweise verboten.
Heute leben 2,3 der insgesamt 5,4 Millionen Einwohner*innen der palästinensischen Autonomiebehörde im Gazastreifen. Etwa 70 % sind Flüchtlinge des Palästinakriegs und deren Nachkommen. Damit gehört der Streifen mit einer Fläche etwa so groß wie das Bundesland Bremen – insbesondere die Flüchtlingslager – zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Welt. Die Hamas-Regierung hat aufgrund von Korruption und ihrer Unfähigkeit, die humanitäre Lage in Gaza zu verbessern, in den letzten Jahren an Zuspruch in der Bevölkerung verloren. Dennoch bestraft Israel vor allem die Zivilbevölkerung – alte Menschen, Frauen und Kinder – für den Hamas-Terror: Seit Kriegsbeginn im Oktober 2023 stirbt etwa alle zehn Minuten ein Kind in Gaza, 2.600 Menschen wurden inhaftiert, viele mutmaßlich misshandelt. Jede Stunde gibt es 35 neue Verletzte, zwölf Gebäude werden zerstört oder beschädigt – bereits die Hälfte aller Wohnhäuser. Nur noch vier der 35 Krankenhäuser sind in Betrieb. Ganze Familien wurden bei Zerstörungen von Drei-Generationen-Häusern ausgelöscht. Die Opferzahl von mindestens 99 Journalist*innen ist beispiellos in der Geschichte. (Stand: Februar 2024)

Kulturstadt Gaza

In Anbetracht des Schicksals des Gazastreifens in Folge der Nakba, der israelischen Blockade und der zahlreichen Militäroperationen gerät ein anderes Bild von Gaza in den Hintergrund. Gaza sei für Außenstehende ein „ärmlicher Platz, verdammt zu ewigem Elend, bewohnt von einer fanatischen Gruppe Terroristen“, schreibt Jawdat Khoudary, Sammler archäologischer Funde für Gazas Museum Al-Mathaf. Selten habe ein Außenstehender „die schöne Küstenstadt vor Augen, bewohnt von einfachen und gastfreundlichen Menschen, die allein ein gutes Leben führen möchten.“ Die Bewohner*innen Gazas verbinden mit ihrer Heimat den Duft der Orangen- und Zitronenhainen, von Nelken, Rosen und Bougainvillea-Blumen, die zugleich wichtige Exportgüter sind. Die Bäuer*innen sind stolz auf den weltweit einzigartigen Geschmack ihrer Erdbeeren, die sie auch als „rotes Gold“ bezeichnen. Sie werden das ganze Jahr über angebaut und vorwiegend nach Europa und in andere arabische Länder exportiert.
Ebenso wenig bekannt ist die lange Geschichte Gazas als eines der am längsten bewohnte Gebiete der Welt. Die Kanaaniter, die alten Ägypter, Phönizier, Römer und Byzantiner sowie später die muslimischen Eroberer und dann die Osmanen haben im Laufe der Jahrhunderte an diesem Küstenstreifen gelebt und ihre Spuren hinterlassen. Die Handelsstadt Gaza war lange ein Symbol für den interkulturellen Austausch, da sie aufgrund ihrer strategisch günstigen Lage am Mittelmeer Afrika, Europa und Asien verband. Die Andenken an die reiche Kulturgeschichte Gazas wurden jedoch mittlerweile nahezu vollkommen zerstört. Bereits im Jahr 2006 zeichnete sich für Kulturwissenschaftler Detlev Quintern in Gaza eine „Kulturzerstörung in bislang unbekanntem Maß“ ab. Nach der britischen Forschungsagentur Forensic Architecture wurden bisher mehr als 200 Kulturstätten in Gaza von israelischen Streitkräften zerstört. Dazu gehört z.B. der historische Anthedon Hafen, der erste bekannte Hafen von Gaza – bereits 2017 durch israelische Streitkräfte zerstört – oder die Große Omari-Moschee, die wahrscheinlich älteste Moschee im Gazastreifen, die vor 1.400 Jahren errichtet wurde. In der Bibliothek der Moschee befanden sich die letzten wenigen Bücher antiker Sammlungen. Sie wurden bei einem israelischen Bombenangriff am 8. Dezember 2023 zerstört.
Teil der Zerstörung sind nicht zuletzt auch die von Forensic Architecture dokumentierten Umweltschäden, die durch das Pumpen von Meerwasser in das Tunnelsystem unter Gaza verursacht werden. Für das Errichten der dazu benötigten Pumpen wurden mehrere archäologischen Fundstätten beschädigt. Umweltschützer*innen haben davor gewarnt, dass dies die bereits geringen Grundwasservorkommen Gazas für die nächsten kommenden Generationen gefährde und Gaza längerfristig unbewohnbar machen könnte.
Die derzeitigen Bilder in den Medien gehen nicht nur wenig auf die Zerstörung kultureller Stätten ein – wie viele Menschen in Deutschland haben eine Vorstellung von dem einst reichen kulturellen Leben in Gaza? Zum Beispiel florierte bis vor wenigen Jahren eine Badehaus-Kultur in Gaza-Stadt. Die marmorgefliesten Badehäuser aus der osmanischen Zeit – oft noch mit traditionellen Holzöfen und Aquädukten beheizt – waren lange Zeit ein Treffpunkt für die städtische Bevölkerung. Das Hammam al-Sammara war das letzte von ihnen. Es wurde im Dezember 2023 durch Luftangriffe israelischer Streitkräfte zerstört. Gazas Kultur habe Jahrhunderte von Kriegen überdauert, so der französische Historiker Jean-Pierre Filiu, aber nicht Israels aktuelle Aggression – die Erinnerung an die Menschheit werde vor unseren Augen ausgelöscht.

Angriffe auf eine kulturelle Identität

Im Zuge der Etablierung eines jüdischen Staates in der Region von Palästina wurde die Kultur der dort lebenden Bevölkerung zunehmend verdrängt und zerschlagen. Die Besatzung zerstöre das kulturelle Leben und die Kreativität in Gaza, so Abdel Salam Attari, Direktor für Literatur und Verlagswesen im Kulturministerium der Palästinensischen Autonomiebehörde. Es sei Teil Israels Politik, die palästinensische Identität auszulöschen. Zahlreiche Luftangriffe auf das kulturelle Leben zeugen davon: Bis Mitte Februar wurden 32 Kultureinrichtungen und Theater zerstört, sowie zwölf Museen, neun öffentliche Bibliotheken und acht Verlage und Druckereien. Zudem wurde die Tötung von mindestens 44 Schriftsteller*innen und Künstler*innen sowie 94 Universitätsprofessor*innen dokumentiert. Auch vor der unmittelbaren Ahnenkultur der Palästinenser*innen in Gaza machen die israelischen Streitkräfte keinen Halt: Laut CNN haben sie 16 Friedhöfe im Gazastreifen zerstört, Grabstätten mit Bulldozern zerpflügt und dabei Leichen freigelegt. Die mutmaßlich strategische Zerstörung von Ruhestätten ist ein Akt der Entmenschlichung und das vielleicht deutlichste Zeichen des Versuchs, die Kultur der Bevölkerung Gazas zu entwürdigen und die Menschen kulturell zu entwurzeln.
Ein wesentlicher Teil der kulturellen Verwurzelung einer Gemeinschaft ist auch ihr Wissenssystem, das in Universitäten und Bibliotheken bewahrt und weiterentwickelt wird. Das Wissen um die eigene Kultur und Geschichte ist identitätsstiftend – wenn nicht die Voraussetzung, um eine kulturelle Identität ausbilden und bewahren zu können. Satellitenbilder verdeutlichen, dass Orte der Bildung und Wissenschaft sehr wahrscheinlich intendierte Angriffsziele der israelischen Armee waren. Laut OCHA-Bericht wurden 400 Bildungseinrichtungen im Gazastreifen – rund 90 % aller Schulen und Hochschulen – zerstört, darunter die fünf Universitäten Gazas – inklusive zahlreicher wissenschaftlicher Erzeugnisse. Nach Muhammad Ayyash, einem palästinensischen Professor in Kanada, gehe es Israel darum, die Palästinenser*innen als eine kulturelle Gruppe, die Wissen pro- duziert, aus der Geschichte zu streichen. Trotz der vielen Kriege und der Perspektivlosigkeit sei die aktuelle Alpha- betisierungsrate in Gaza mit 97,5 % erstaunlich hoch. Viele Palästinenser*innen sähen Bildung als Teil ihres Befreiungskampfes, so Ayyash. Sie würden Gaza etwas zurückgeben wollen, um es wieder zu einem lebenswerten Ort zu machen, an dem kulturelle Güter geschaffen werden: wissenschaftlicher Fortschritt, Kunst und Kultur. Davon zeugten die renommierten Bildungseinrichtungen in Gaza, die hochqualifizierte Absolvent*innen hervorbrachten, und die hohe Zahl an Studierenden – bis vor Kurzem rund 85.000.
Noch besorgniserregender als der katastrophale Zustand des vielfältigen Kultur- und Bildungsleben Gazas ist die Tatsache, dass dieses in euroamerikanischen Diskursen und Berichterstattungen der letzten Jahre kaum Beachtung fand. Die Region wurde vorrangig aus politi- scher und sicherheitspolitischer Perspektive betrachtet – die Palästinenser*innen in Gaza entweder als Opfer oder Bedrohung dargestellt. Dass sie Erb*innen und Mitgestalter*innen einer reichen kulturellen Tradition und einer vielfältigen Bildungslandschaft waren, schien nicht in dieses Bild zu passen und wurde verdrängt.

Eine Kultur des Widerstands

Menschen drücken ihre kulturelle Identität – ihre Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppe – durch gemeinsame Werte, Traditionen, Sprache, Geschichte, Bräuche, Musik, Kunst u.Ä. aus. Sie ist Teil des eigenen Selbstbewusstseins und bildet die Grundlage des Rechts zur Selbstbestimmung. Die Zerstörung von kulturellen Orten und Wissensbeständen kann jedoch schwerlich eine kulturelle Identität auslöschen – im Gegenteil: Die Jahrzehnte lange Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung Palästinas führte zu einem neuen Selbstbewusstsein der Menschen als kulturelle Gruppe – wenn auch geprägt von Trauer, Wut und Frustration – und zu neuen Ausgestaltungen ihrer Kultur. Die Zerstückelung des palästinensischen Autonomiegebiets und die Isolation Gazas veranlasste die Palästinenser*innen zur Schaffung diverser neuer Verbindungsformen, wie z.B. virtueller Austauschprogramme, von denen die unique in Ausgabe 97 berichtet hat. Bekanntlich gibt es auch Fälle krimineller Kreativität: Als Reaktion auf Israels seit 2007 andauernde Blockade errichtete die Hamas mit dem Tunnelsystem eine komplexe „Parallelkultur“, um Lebensmittel, Medikamente, Baumaterialen und Waffen in den Gazastreifen zu schmuggeln.
Zu einem festen Teil der palästinischen Identität ist die Haltung des friedlichen Widerstandes geworden: die Haltung des Sumuds, was so viel bedeutet wie Standhaftbleiben als alltäglicher Widerstand – Weitermachen trotz widriger Bedingungen – Versuchen, so normal wie möglich zu leben – zerstörte Häuser Wiederaufbauen, auch wenn ein erneuter Niederriss droht – und vor allem: unter keinen Umständen das Land verlassen. Mit der israelischen Aggression wächst auch der palästinensische Widerstand, der zunehmend auch den aktiven, gewaltvollen Widerstand beinhaltete und an dessen Spitze in einem nie dagewesenen Ausmaß der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober stand. Nichtsdestotrotz sprechen sich viele Palästinenser*innen nach wie vor für den friedlichen Widerstand aus. In Gaza haben sich Projekte etabliert, die den Menschen eine Stimme geben wollen, damit ihre Not in der internationalen Gemeinschaft Gehör findet. Das gemeinnützige Jugendprojekt „We Are Not Numbers“ hat z.B. zum Ziel, die Geschichte junger Menschen hinter den abstrakten Zahlen aus den Nachrichten zu erzählen. Die Mitglieder der „Gaza Poets Society“ versuchen, ihr persönliches Erleben der aktuellen Notlage in Gaza in Worte zu fassen und über Social Media zu verbreiten. Das sind Beispiele von Gruppen, die der derzeitigen Kulturzerstörung zum Trotz neue Kultur schaffen. Aufgrund ihrer dynamischen und komplexen Struktur kann eine kulturelle Identität schwerlich durch Gewalt zerstört werden – sie verändert jedoch ihre Gestalt und wird durch das dialektische Kräfteverhältnis mit ihren Opponenten vielmehr gestärkt als zerstört. Es ist unmöglich, den Widerstand der Palästinenser*innen mit Gewalt zu brechen – die gegenteilige Entwicklung zeichnet sich ab. Die israelische Unterdrückung und Vertreibung beförderten die Idee des Befreiungskampfes durch Bildung auch in der Diaspora, wie intellektuelle Bestrebungen zur Aufdeckung israelischer Kriegsverbrechen. Hinzu kommt die sich potenzierende weltweite Solidarisierung mit den Palästinenser*innen und ihrem Schicksal, was ebenfalls das palästinensische Bewusstsein als kulturelle Gruppe stärkt.
Anders steht es um die individuelle Verwurzelung eines Menschen, dessen Heimat zerstört und dessen Familie verletzt, verstümmelt oder gar vollkommen ausgelöscht wurde. Menschen können entwurzelt werden – kulturelle Gruppen kaum. Ersteres schürt Hass. Es hinterlässt tiefe Wunden, die über Generationen fortbestehen, die sich bereits tief in das kulturelle Gedächtnis der Palästinenser*innen eingegraben hat. Letztes, die palästinensische Kultur, kann den Küstenstreifen wiederbeleben, sofern dies politisch gewollt ist. Es ist schwer vorstellbar und doch jederzeit möglich, der Nakba ein Ende zu setzen, den Palästinenser*innen endlich Zuversicht und eine Vision zu geben, eine angemessene Antwort auf die tiefen Zerwürfnisse und Leiderfahrungen zu finden. Dazu gehört es auch, den Menschen in Gaza und ihrer Kultur den ihnen gebührenden Respekt zu erweisen – auch im öffentlichen Diskurs und in der medialen Berichterstattung. Diese Form des Sumuds verdient unsere Aufmerksamkeit.


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