„This must be the place“ von Shain Shapiro

“This book is my attempt to honour my love of music by exploring its impact on how we live, and how it shapes the places we call home. I’ll show the effect music has on how cities are developed, built, managed and governed.” Mit diesen zwei Sätzen beginnt Shain Shapiro die mit “Why music matters“ betitelte Einleitung seines im September 2023 erschienenen Werks „This must be the place – How music can make your city better”.

von Sebastian Baum


Wenn man über den Einfluss von Musik auf das tägliche Leben nachdenkt, dann bleibt dies meist auf einer sehr individuellen Ebene. Sie ist zwar überall, hat aber viel an ihrer Besonderheit und ihrem gemeinschaftlichen Charakter verloren. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert war Musik nur dann „konsumierbar“, wenn sie live gespielt wurde. Sie war begrenzt auf besondere Orte wie Kirchen, Jahrmärkte, Opernhäuser, Pubs. Selbst zur Hausmusik traf sich die Familie und zelebrierte sie. In dem Moment, in dem Musik „konserviert“ wurde, auf Wachszylindern, Schallplatten, Magnetbändern, CD’s und letztlich auf Festplatten, ist ihr der kommunale Charakter abhandengekommen. In Zeiten der Spotify-Playlists könnte man behaupten, dass der Einzelne zwar mehr Musik als je zuvor in der Menschheitsgeschichte hört, dies aber oft nur dazu dient, im Hintergrund die „Leere“ bei anderen Aktivitäten zu füllen, etwa beim Putzen, Kochen, Artikel schreiben oder Arbeiten. Massenhafte „Lo-fi Music for Studying“-Playlists, welche rund um die Uhr in Dauerschleife gestreamt werden, zeugen davon, dass es scheinbar ein Verlangen danach gibt, selbst die stillen Momente des Lebens noch mit musikalischer Untermalung zu füllen. Dies ist nicht einmal neu, wenn man bedenkt, dass schon vor weit mehr als einem halben Jahrhundert lange Autofahrten durch das Radio etwas erträglicher gestaltet wurden und in Einkaufszentren, Aufzügen und in Telefonwarteschlangen unauffällige Hintergrundmusik, sogenannte „Muzak“ gespielt wurde. Kurzum – Musik ist omnipräsente, hyperindividualisierte Hintergrundbeschallung, aber gleichzeitig voll persönlicher Bedeutung.

Shain Shapiro würde diesem Statement in seiner Arbeit jedoch widersprechen. Musik hat laut seiner These gerade in ihrem gemeinschaftsbildenden Charakter ihre größte Bedeutsamkeit. Ihr Effekt kann sich sehr positiv auf Städte auswirken und zwar in vielfältiger Hinsicht. Dieser Text soll den Fokus aber auf eine andere These Shapiros legen: Im ersten Kapitel des Buches beschreibt er, dass Musik eine Messlatte dafür darstellt, wie lebenswert eine Stadt ist. Er vergleicht sie mit den Kanarienvögeln welche in vergangenen Jahrhunderten im Bergbau eingesetzt wurden, um die Luft untertage zu testen. War der Sauerstoffgehalt zu niedrig, ist der Vogel als erstes gestorben, bzw. bewusstlos geworden und der Bergarbeiter wusste, dass er als nächster dran ist, wenn er nicht umkehrt. Ähnliches gilt für Städte. „The success of music in a place demonstrates the success of the place in general”. Wenn eine Stadt dagegen nicht lebenswert ist, z.B. die Bevölkerung unter hohen Mieten leidet, kein Zugang zu kulturellen Aktivitäten geboten wird, dann ist die Musikszene meist die Erste, die darunter leidet. Einerseits die Musikschulen und Opernhäuser, andererseits auch die Amateurbands, Jazzclubs und Bars, usw. Es stellt sich dabei die Frage, wie viel die jeweilige Gemeinde in ihre kulturelle Infrastruktur investiert. Nur wenn junge Menschen überhaupt einen Zugang zu Musikschulen haben, werden sie später die Fähigkeiten besitzen Amateurbands zu gründen oder in Jazzclubs und Opernhäusern zu spielen. Die neoliberale Lösung der Privatlehrer würde uns ins 19. Jahrhundert zurückversetzen und die musikalische Ausbildung zu einem Privileg der Kinder von Besserverdienenden machen. Auch YouTube- bzw. App-Tutorials können einen richtigen Lehrer, welcher individuelle Förderung bieten kann, nicht ersetzen. Musikschulen müssen kommunal gefördert werden und außerdem ein weitreichendes Angebot bieten.

Shain Shapiro zeigt auf, dass im Zuge des Covid-19-Lockdowns vor allem in europäischen Städten, welche durch Hilfszahlungen ihre „Orte der Musik“ unterstützten, diese überleben konnten, während sie in Städten in Nord- und Südamerika, wo man sie im Lockdown allein ließ, untergingen. Das sah er als Zeichen, das eben diese Städte schon vor dem Lockdown wenig lebenswert waren und ihren kulturellen Zentren, bzw. Bewohnern keinerlei Sicherheiten boten. Auch über die direkte Investition in die Kultur hinaus beschreibt er in seinem Werk, dass die Situation der Musik Auskunft über alle kommunalen politischen Entscheidungen bis hin zur nationalen Ebene gibt. Dabei erinnert er an den Kulturkritiker Mark Fisher. Fisher verwies in vielen seiner Schriften (zum Beispiel Ghosts of my Life oder Post-Punk Then and Now ) auf die Zeit in England vor Margret Thatcher, also die 60er und 70er. Damals investierte der englische Staat zum einen mehr auf kommunaler Ebene in die Kultur, etwa indem er experimentelle Kunsthochschulen förderte, welche eine Brutstätte für Innovationen in der Musik (Synth, New Wave) und den Künsten bildeten. Zum anderen bot er generell durch den starken Sozialstaat, auf nationaler Ebene, den Menschen die Möglichkeit, etwas zu wagen, z.B. auch als Kind einer Arbeiterfamilie ein Studium zu wählen, an dessen Ende keine Jobgarantie stand, und dafür sogar ein staatliches Stipendium zu bekommen, keine Studiengebühren zu zahlen und durch sozialen Wohnbau eine günstige Unterkunft zu bekommen. Eine gute Bahnanbindung machte selbst das Pendeln zu einer günstigen Option für die, die außerhalb der Universitätsstädte oder in deren Peripherie lebten. Und was gut war für junge Künstler, davon profitierten auch die Anderen: Niedrige Lebens- und Transportkosten, ein soziales Sicherheitsnetz, günstiger Zugang zu Kultur, ein frischer Wind in allen Künsten.

Nach 4 Jahrzehnten Neoliberalismus ist in England nichts mehr davon übriggeblieben. Aufgrund hoher Studiengebühren, schwer zu bekommender Stipendien und wahnsinnigen Mieten in den Universitätsstädten und der gleichzeitigen Ruinierung des englischen Bahnwesens überlegt man es sich als Kind einer nicht wohlhabenden Familie besser gut, was man studiert. Sonst sitzt man nach dem Studium arbeitslos auf hohen Studienkrediten, welche man zwangsläufig aufnehmen musste, da dort heutzutage kein Nebenjob mehr genug Einkommen abwirft, um die Mieten und Studiengebühren, neben den sonstigen Lebenserhaltungskosten zu finanzieren, wie es in den 60ern und 70er noch der Fall war. Und dies spiegelt sich laut Fisher in der Musik und Kunst selbst wieder. Wenn man nicht einer reichen Familie entspringt und dennoch dazu entschließt, das Risiko einzugehen sein Leben der Musik und Kunst zu widmen, dann wählt man die sicheren Optionen. Anstatt etwas Neues zu kreieren, mit der Gefahr damit auf die Füße zu fallen, orientiert man sich am bereits Dagewesenen. Nostalgie für Altes überragt auch die Hollywoodfilme. Entweder wärmt man die ewiggleichen Handlungen aus 20 Jahre alten Comics wieder auf, man macht Remakes alter Klassiker der 80er oder man bedient sich an bereits etablierten Markennamen, um von dessen Bekanntheitsgrad zu profitieren, wie etwa im Fall des Barbie-Filmes oder den „Realfilm“-Remakes von Disney. Aber eine Kultur, die nur nach gestern zurückschaut, anstatt vom morgen zu träumen, stagniert. Den Vorgang, den Fisher in England beschrieb, beobachtet Shapiro auch in den Vereinigten Staaten. Als Beispiel nennt er Burlington, eine Stadt im Bundesstaat Vermont, mit gerade einmal 40.000 Einwohnern. Eine seiner Lieblingsbands „Phish“ entsprang dieser Stadt und wurde zumindest in Nordamerika so berühmt, dass sie noch heute als einziger Act auf Festivals mit 100.000 Gästen spielen. Gegründet haben sie sich 1983, zu einer Zeit als Bernie Sanders der Bürgermeister der Stadt war und es trotz der relativ geringen Bevölkerung eine florierende Musik, Kultur und Kunstszene in der Stadt gab: „For such a small place, it had more music venues per capita then anywhere else in America.” Der Ort ist auch die Heimat der Eiscreme-Firma „Ben & Jerrys“ und die Gewerbesteuern dieser Firma flossen unter Sanders in mannigfaltige kulturelle Projekte, während er generell das Ziel verfolgte, die Zivilgesellschaft zu stärken. Der Gitarrist und der Bassist von Phish, Trey Anastasio und Mike Gordon haben in Interviews erwähnt, dass die Band keinem anderen Ort hätte entspringen können. Auch weisen sie in vielen Liedtexten auf ihren Herkunftsort hin, wie auf die Clubs, in denen sie ihre ersten Auftritte hatten, oder auf lokale Geschäfte. Das zeigt, dass die Lebensqualität des Ortes in direkter Korrelation zum Erfolg der Band einerseits und andererseits der Musikszene an sich stand. Auch heute noch profitiert Burlington von den Investitionen aus den 80ern. Die Stadt hat den größten kommunal bewirtschafteten Supermarkt in ganz Amerika und sie bezieht ihre Energie zu 100% aus erneuerbaren Energien.

Im Jahr 2021 ist die Lage für Künstler jedoch anders. Shapiro beschreibt, dass in einer Umfrage der Non-Profit-Organisation „Big Heavy World“ herauskam, dass Musiker in ganz Vermont um ihr Überleben kämpfen. Das Medianeinkommen von Künstlern und Musikern liegt weit unter dem lokalen Durchschnitt anderer Sektoren und der Initiator der Umfrage, Jim Lockridge, glaubt, dass es wenig Möglichkeiten von Seiten der Kommunalpolitiker gibt, dieses Problem zu behandeln. Von Krankenversicherungen können die Künstler aufgrund ihrer losen Beschäftigungsverhältnisse und der immer höher werdenden Beiträge nur träumen und die Mieten sind auch in Amerika seit den 80ern durch Gentrifizierung und Mietwucher in die Höhe geschnellt – von Wohneigentum braucht man gar nicht erst anfangen. Auch litt Burlington in den Jahren seit der Bürgermeisterschaft Sanders unter Wirtschaftskrisen, kürzte dabei zuerst am Kulturbudget und erkannte nicht die Rolle, welche die Musik bei der Entwicklung der Stadt spielte und noch spielen könnte. Man sieht, wie die Musik und die Künste wieder den Kanarienvogel für den Bergarbeiter der nationalen und kommunalen Entscheidungen spielen und ihnen als erste die Luft wegbleibt, wenn es zu Kürzungen kommt.

Die Entscheidung Shapiros Buch zu lesen, traf ich bereits kurz vor dessen Erscheinen im September 2023. Das Thema erschien mir interessant und wichtig. Eigentlich wollte ich ein generelles Review schreiben und wer weiß welchen Fokus ich beim Lesen des Buches und schreiben dieses Artikels gesetzt hätte, wenn ich es vor dem 15. November 2023 getan hätte. Zu diesem Zeitpunkt erklärte das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung der „Ampelregierung“ von 2021, nicht genutzte Coronahilfsgelder in einen Klima- und Transformationsfond zu stecken, offiziell für verfassungswidrig. Daraus ergab sich ein Haushaltsdefizit von 60 Milliarden Euro in den nächsten Jahren. Zur Schließung dieses Haushaltslochs wird es zu Kürzungen auf verschiedenen Ebenen kommen, was sich vor allem negativ in Landesbudgets und in kommunalen Budgets niederschlägt. Statt die sogenannte Schuldenbremse weiter auszusetzen (oder besser gleich wieder aus der Verfassung zu nehmen), wird die Kultur wohl wieder als erstes unter der Sparpolitik der „Schwarzen Null“ leiden. Das heißt, in den kommenden Jahren könnte der Zustand der lokalen Musikszenen in Deutschland an die toten Singvögel im Käfig eines frühneuzeitlichen Bergmannes erinnern, wenn es nicht zu einem breiten Widerstand gegen die Austeritätspolitik der „Schuldenbremse“ kommt. Nur eine Erhöhung sozialer und kultureller Ausgaben kann dafür sorgen, dass Deutschland nicht so endet wie England und stattdessen dem Beispiel Burlingtons unter Sanders folgt, damit unsere Städte auch in Zukunft noch Orte sind, in denen wir gut und gerne leben, experimentieren und Neues erschaffen.


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