„Sag das noch einmal, Kierkegaard“

Sinn und Glück des Lebens, schreibt der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855), liegen in der Wiederholung. Er ernennt sie in seinem Werk Die Wiederholung zu der wichtigsten Kategorie der neueren Philosophie. Was hat es damit auf sich? Was können wir wiederholen, wenn nicht das Alte, bereits Bestehende? Kierkegaard schreibt: „Es ist nur das Neue, dessen man überdrüssig wird, nie das Alte“. Die Wiederholung ist alles andere als ermüdender Alltagstrott und festgefahrene Routine. Sie ist sogar das Lebendigste und Schöpferischste, was wir uns vorstellen können!

von Aliena Kempf


Wir wollen Utopien erdenken, die Verfasstheit der neoliberalen Gesellschaft kritisieren, ihre Widersprüchlichkeiten aufzeigen und heute im Kleinen schon so leben, als wäre die ideale Welt schon gegenwärtig. Trotz kleiner Mut machender Erfolge – die Geschichte zeigt uns, dass Utopien scheitern. Immer wieder. Weder Sozialismus noch Kapitalismus erreichten utopische Zustände, ebenso wenig die soziale Markwirtschaft oder liberale Demokratie. Eine bessere Welt scheint nicht möglich zu sein. Im Gegenteil: Im Streben nach dem angeblich Besseren, produziert die Menschheit das Schlechtere – bestenfalls eine anders schlechte, ungerechte Welt. Das wiederholte Scheitern von Utopien ist wie ein Fluch, eine wiederkehrende Retraumatisierung. Das ist eine Wiederholung, die wir vermeiden wollen. Und überhaupt: Ist, wer heute noch über Utopien nachdenkt, nicht schrecklich naiv oder gänzlich verrückt geworden? Spätestens seit der „Letzten Generation“ geht es nicht mehr nur um das bessere (Zusammen-)Leben, sondern um das Weiterleben überhaupt. Mit einem entschiedenen Ja zum Fortbestand des Planeten Erde inklusive unserer Spezies ist aber auch klar, dass sich grundlegend etwas verändern muss. Wenn wir weiterhin Lebensstil und Glaubenssätze unserer Vorfahren wiederholen, dann war‘s das. Es wird Zeit, den Teufelskreis zu durchbrechen und Kierkegaard nach der „richtigen“ und „eigentlichen“ Wiederholung zu fragen, ehe uns die nächste und vielleicht letzte schicksalhaft einholt.

Utopie – nein danke?

Solidarisches Wohnen, Ökodörfer, bedingungsloses Grundeinkommen – dem hat Kierkegaard nichts hinzuzufügen außer einem unverständigen Kopfschütteln. Er würde uns sagen: Ihr wollt etwas verändern, doch all eure Bestrebungen beziehen sich auf das Außen, auf die Welt, die Gesellschaft. Weil es euch neben dem Überleben auch um das gute Leben geht – im Einklang mit der Natur – hofft ihr, durch äußere Veränderung auch eine Veränderung in eurem Inneren zu bewirken, einen glücklicheren Menschen aus euch zu machen. Bleibt der Mensch aber gleich, wiederholt er auch seine Fehler: Der ungelöste Kern in seinem Inneren holt ihn immer wieder ein. Überhaupt reagiert Kierkegaard auf alles allergisch, was idealistisch-perfekt daherkommt. Er wirft uns vor, mit einem Ideal – sei es vom menschlichen Zusammenleben, von einer geliebten Person oder unserem Leben – schon am Ende zu sein, ehe wir eigentlich angefangen haben, wirklich etwas zu tun. Wir würden nie wirklich erfassen, wie unser Gegenüber, unsere Gesellschaft aussieht, weil wir immerzu unser Ideal sehen wollen. Dabei befinden wir uns im Modus des Erinnerns: Indem wir versuchen, eine Idee zu verwirklichen, kehren wir gedanklich immer wieder zu unserem Entwurf zurück – und sehen ihm beim Scheitern zu. Wir werden zu Melancholiker*innen, die einer idealen Welt nachtrauern, die nie existiert hat und nie existieren wird.

Es klingt zunächst so, als sollten wir uns besser in stoischer Akzeptanz üben: nicht sofort etwas verändern wollen, sondern den Ist-Zustand erst einmal so hinnehmen. Kierkegaards Forderung ist aber radikaler: Wir sollen den derzeitigen Zustand nicht nur passiv dulden, sondern aktiv wollen. Der Utopist in uns ist damit alles andere als einverstanden. Natürlich, um den Kapitalismus zu überwinden, muss man ihn kritisieren und dafür wiederum erst einmal richtig wahrnehmen und verstehen. Aber ihn wollen?! Genau dieses Wollen, Bejahen, Bestätigen ist die Wiederholung, die Kierkegaard vorschwebt. Die Wiederholung ist gleichbedeutend mit der Wahl. Und wir wählen nichts weniger als das, was ist: unsere Welt, Gesellschaft, Herkunftsfamilie, … uns selbst. Es ist wie eine zweite Geburt, nur dass wir sie dieses Mal selbst wollen, sie bewusst initiieren und durchlaufen. Und das soll wirklich etwas bringen?

Das hab‘ ich alles nicht gewollt…

Für Kierkegaard macht diese Wiederholung einen entscheidenden Unterschied: Wir übernehmen Verantwortung für die Welt und uns selbst, obwohl wir nichts dafür können. Wir haben sie und uns nicht verursacht, nicht gewollt. An allen Problemen und Missständen tragen wir keine Schuld, denn sie waren vor uns da. Wir werden geboren, machen die Augen auf und finden uns darin wieder. Der Ärger des Utopisten ist vollkommen richtig: Wer hat uns diese Suppe eingebrockt, die wir jetzt wieder auslöffeln sollen? Der Finger zeigt auf die vorherige Generation, was sicher nicht ganz falsch ist. Doch auch diese Generation fand sich in derselben Situation wieder, mit der Welt fertigzuwerden, so wie ihre Vorfahren sie hinterlassen haben. Mit der Nummer der Schuld kommen wir nicht weit und gleichsam an den Ursprung von allem: zur Theodizee. Wie der biblische Hiob, Kierkegaards Schlüsselfigur in Die Wiederholung, wenden wir uns klagend an den Schöpfer: Warum hat er dieses Leid, diese Missstände zugelassen? Hiob wurde von allen möglichen Verlusten heimgesucht, von der Ernte über sein Vieh bis zu schrecklichen Krankheiten. Und für all das gab es keinen wirklichen Grund. Er trug keinerlei Schuld und musste doch irgendwie damit fertig werden. Also Verantwortung für etwas übernehmen, für das er nichts konnte; sein Leben in die Hand nehmen, obwohl er ganz am Boden war.

Nicht mehr und nicht weniger verlangt Kierkegaard auch von uns: Verantwortung für unsere Mit- und Umwelt sowie uns selbst zu übernehmen, als hätten wir das alles so gewollt. Hierin liegt auch unsere Freiheit: immer wieder Ja zu uns und den Gegebenheiten zu sagen. Auf diese Weise befördern wir uns zurück in die Gegenwart, handeln im Jetzt, statt in die Erinnerung eines besseren Zustands oder die Vorstellung einer besseren Zukunft zu flüchten. Ebenso könnte ich in passiver Haltung sagen, es ist alles gut so, wie es ist, oder anderen die Schuld für meine Probleme geben. Sich dagegen für die Wiederholung zu entscheiden, ist weder selbstverständlich noch einfach: „Es gehört Mut dazu, die Wiederholung zu wollen. Wer bloß hoffen will, ist feige, wer bloß erinnern will, ist wollüstig, aber wer die Wiederholung will, der ist ein Mann [bzw. ein Mensch]“, schreibt Kierkegaard. Unser Problem liegt für ihn darin, dass wir gar nicht merken, dass wir vor einer solchen Entscheidung stehen, dass wir in jedem Moment dazu aufgefordert sind, das Leben, so wie es gerade ist, noch einmal explizit auszuwählen. Es geht nicht darum, sich zwischen mehreren Alternativen zu entscheiden – in etwas: ziehe ich nun nach Jena oder Hildesheim? –, sondern um das Ob Überhaupt: Gehe ich wirklich meinen Weg? Bin das noch ich?

Es zeichnet den Utopisten aus, dass er unzufrieden mit den Umständen ist, und aus der Unzufriedenheit zieht er seine Kraft für Veränderungen. Ist das nun falsch? Oder anders gefragt: Kann er die Umstände gleichzeitig wollen und nicht wollen? Hier bringt Kierkegaard wieder Hiob ins Spiel. Das Entscheidende an Hiob ist, dass er wütend ist und Einspruch gegen Gott erhebt. Genauer gesagt, erhebt er Einspruch gegen eine falsche Schuldzuschreibung. Anders als seine Freunde, die bei Hiobs Verhalten die Erklärung für sein Unglück suchen, besteht er darauf, nichts falsch gemacht zu haben, wofür er von Gott bestraft worden sei. Damit beharrt er aber auch auf der Sinnlosigkeit seines Leidens. Denn alle Schuldzuschreibungen – wer ist denn nun maßgeblich schuld an der Klimakatastrophe? – haben die Funktion der Sinngebung. Sie machen ein Leiden, einen Missstand verstehbar, erträglicher und erlauben, mit Recht zu handeln: gegen Schuldige – z.B. Energiekonzerne – vorzugehen und sie vor Gericht zu stellen. Hiob wagt es, eine solche Erklärung bei Gott zu suchen und überschreitet dabei eine entscheidende Grenze. Statt in Gott den unverfügbaren, ganz Anderen zu sehen, spricht er mit ihm „von Mann zu Mann“. Er begegnet ihm auf Augenhöhe; d.h., er macht Gott verantwortlich, indem er ihn dazu auffordert, Verantwortung für das Zustandekommen seines Leids zu übernehmen. Doch Gott lässt sich nicht darauf ein und verweist auf die Unergründlichkeit der Zusammenhänge des Daseins. Das Leid ist nicht verstehbar, nicht erklärbar. Es ist Hiob, der sich in dieser Situation wiederfindet und niemand kann das Leben für ihn leben, ihm die Verantwortung für den Umgang mit seiner Situation abnehmen.

Wut und Ärger können der gesunde Widerstand sein, den Ist-Zustand nicht einfach hinzunehmen. Sie sollten aber nicht auf einen Schuldigen gerichtet werden, sondern auf den Ist-Zustand selbst. Kierkegaard ist es wichtig, nicht zu einfach oder zu schnell mit den Gegebenheiten fertig zu werden, sondern sich immer wieder an ihnen abzuarbeiten. Doch warum sollte man das tun, wenn man sich nicht einmal eine Utopie, einen besseren Zustand ausmalen darf? Wonach streben, wenn nicht nach einer besseren Welt? Wer immer wieder die Wiederholung wagt, ist in Bewegung, im Werden. Und die Bewegung der Wiederholung ist die des Wunsches. Ohne Mangel, kein Wunsch. Wir nehmen uns selbst und unsere Um- und Mitwelt immer defizitär wahr, was unseren Wunsch nach Verbesserung weckt. Es ist ein unbestimmter und ewiger Wunsch. Denn der Sinn des Wunsches besteht bei Kierkegaard nicht darin, erfüllt zu werden, sondern sich fortwährend zu reproduzieren und somit aufrechtzuerhalten. Unser Wunsch nach Verbesserung muss und will also Wunsch bleiben. Ein möglicher Zielzustand kann und soll nie erreicht werden. Natürlich wollen wir nicht, dass die Welt so bleibt wie sie ist, aber sie ist die einzige, die wir haben. So ernüchternd das auch klingen mag – diese Vorstellung lässt sich sehr gut mit dem vereinbaren, wie Utopien derzeit gedacht werden. Der Sozialist Tschernyschewskij stellte sich in seinem Roman Was tun? Erzählungen vom neuen Menschen, der Karl Marx schwer beeindruckte, den Zielzustand einer idealen Gesellschaft noch folgendermaßen vor: Die Menschen leben in einer sorgsam gepflegten Natur, in einem riesigen Gemeinschaftspalast aus Metall und Glas, überall Aluminium und grünende exotische Gewächse. Ihre einzige Aufgabe besteht darin, die Maschinen zu starten und zu überwachen – und das Leben zu genießen. Es fehlen nur noch die Medien der Spaß- und Unterhaltskultur, die uns die letzte Eigentätigkeit, das Denken und die Vorstellungskraft, abnehmen und wir haben ein gelungenes Beispiel für eine Dystopie. Spätestens seit Nozicks Experiment, das der Frage nachging, ob wir ein lustvolles Leben ohne Leid auf Knopfdruck oder unser reales Leben mit all seinen Höhen und Tiefen bevorzugen würden, ist klar, dass wir letzteres wollen: in der Welt sein, nach unversöhnlicher Erkenntnis und unvollkommener Gerechtigkeit streben. Sind wir also bereit, mit Kierkegaard auf die ungewisse Reise der Wiederholung zu gehen?

Zeit für einen Neubeginn

Ehe wir dieses Wagnis eingehen, sollten wir uns noch einmal vergegenwärtigen, was wir wiederholen wollen und was nicht. Denn nichts wäre verdrießlicher, als nach all diesen Ausflügen wieder in den alten Trott zu geraten und im Sehnen nach dem Neuen, der Veränderung, doch wieder vom Alten eingeholt zu werden. In der Wiederholung geht es allein um uns selbst und nicht darum, in einem höheren Ideal-Ich auf-zugehen. Ideale sind allgemein und abstrakt. Und was immer sie sind – eines sind sie nicht: wir selbst. Ideale lenken von uns ab. Sie helfen uns, uns selbst zu überspringen, nicht richtig hinzuschauen. Es geht nicht um Perfektion oder um Selbstoptimierung. Denn wenn wir ehrlich sind, kommen solche Vorstellungen nicht von uns selbst. Nicht uns selbst verwirklichen wir dabei, sondern Ideen eines anonymen Anderen – der Gesellschaft, der herrschenden Ordnung. Wollen wir uns selbst wählen oder unsere Entfremdung? Wollen wir uns für etwas Größeres opfern und am Ende beides verlieren: das Ideal und uns selbst? Fast beiläufig haben wir bisher Kierkegaards Kerngedanken behandelt: Wähle dich selbst. Werde, der oder die du wirst. Gehe, wohin du gehen wirst, aber gehe deinen Weg.

Warum ist uns immer das Neue lästig, nie das Alte? Wir fühlen uns immer zu getrieben, Projekte voranzutreiben, die Welt im Außen zu gestalten. Das ist anstrengend und ermüdend vor allem aus einem Grund: Uns selbst betrifft das überhaupt nicht, weil wir dabei dieselben bleiben. Wir als Person haben uns dabei nicht besser verstanden, sind unsere Probleme nicht angegangen, sondern haben uns in der bunten Geschäftigkeit vergessen – und versuchen mit letzter Kraft, unseren müden Krieger in das nächste Projekt zu ziehen. Unser Schatz aber liegt im Alten, er liegt in uns selbst begraben und möchte geborgen werden. Da du bereits bist, wer du bist, wiederholst du dein Du-Sein. Aber bleibst du dabei wirklich die oder der Alte? Kierkegaard verwendet viel Mühe darauf, uns zu zeigen, dass eine Art der Wiederholung nicht möglich ist: nämlich die exakte, identische Reproduktion dessen, was einmal gewesen ist. Denn selbst wenn du dich in der exakten Umgebung wiederfindest, ist doch nicht alles beim Alten geblieben. Etwas hat sich beispielweise zu Hause in deinem Zimmer verändert, obwohl du nichts angerührt hast. Du findest bei der Rückkehr in deine Heimat alles genauso wieder, wie du es zurückgelassen hast und dennoch ist es nicht dasselbe, weil du dich verändert hast: Du bist in einer anderen Stimmung, hast andere Gedanken, neue Erfahrungen gemacht und nimmst das Zimmer mit anderen Augen wahr. Vielleicht ist der Unterscheid klein, aber es ist doch niemals genau das Gleiche. Du bist es – und gleichzeitig bist du es nicht. Du beginnst, deine Existenz im Werden zu begreifen. Das ist das Moment der Wiederholung: der Übergang zwischen dem, was du nicht mehr und noch nicht bist. Die Wiederholung führt dich in die Gegenwart, in dich selbst. Noch einmal wählst du bewusst alles: deine Familie, deinen Geburtsort, deine Kultur, deine Zeit. Du begreifst, dass du nicht nur lebst, sondern immer auch vor der Entscheidung stehst, es noch einmal zu wählen. Nichts ist leichter als die Entscheidung anderen zu überlassen: Mögen sich die Umstände doch ändern, dann wäre ich bereit, das Leben noch einmal zu wagen.

Die das Selbst bestätigende Wiederholung ist ein ethischer Akt. Sie ist die revolutionäre Wiederholung, die Revolutionäres bewirken kann. Wir übernehmen Verantwortung für unser Dasein, für unser Leben. Wir erkennen unsere Einzigartigkeit und Singularität an und treten als Subjekte auf. Und dieser Schritt ist nur vollständig, wenn wir unser Gegenüber auch als ein Subjekt im Werden ansehen; es weder idealisieren noch abwerten; weder über es bestimmen noch sich von ihm bestimmen lassen. Es ist der Versuch, unsere Mitmenschen und unsere Gesellschaft so zu sehen, wie sie sind; sie zu verstehen, sie in ihrem Werden, ihrem Weg zu begreifen und anzuerkennen. Das heißt aber auch, nicht übergriffig zu werden und meinen zu wissen, wie es besser sein sollte, wie sich etwas oder jemand zum Besseren verändern sollte. Damit wäre schon viel erreicht. Eines müssen wir jedoch ebenfalls wollen: auch dabei zu scheitern. Denn nur wer die eigene Unvollkommenheit und die des Gegenübers nicht aus dem Blick verliert, entgeht, so Kierkegaard, der trügerischen Idealismus-Falle und lebt. Noch einmal.


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