Ceci n’est pas une utopie!

von Thomas Honegger, Professor der anglistischen Mediävistik an der FSU


Es ist kein Zufall, dass der utopische Ur-Text und Namensgeber für die ganze Textsorte ein Produkt der frühen Neuzeit ist: Thomas Morus’ De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia (Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia), veröffentlicht 1516. Der fiktive Reisebericht beschreibt einen idealen Staat, in dem viele der von den Humanisten vertretenen Ideale politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit geworden sind. Indirekt übte Morus damit natürlich Kritik an den nicht ganz so idealen Verhältnissen in seiner englischen Heimat, strebte aber wohl nicht nach einer realweltlichen Umsetzung der im Buch geschilderten utopischen Verhältnisse.

Morus’ Schrift gehört zur Textsorte der Reiseberichte, die sich durch die seit dem späten 15. Jahrhundert zahlreichen Entdeckungsreisen der europäischen Seemächte einer großen Beliebtheit erfreuten und die am Anfang der Erschließung der neuen Welt Platz für solche Projektionen boten. Nach der mehr oder weniger vollständigen Erforschung der unbekannten Länder und Kontinente wurde eine solche geographische Verortung utopischer Gesellschaften zunehmend schwieriger und die meisten Autor:innen verlegten ihre Utopien in eine zukünftige Zeit – oder setzten sie in eine zeitlich wie auch räumlich ferne Zukunft (z.B. auf einen anderen Planeten im Universum). Morus’ Utopia begründete aber nicht nur eine eigene Textgattung, sondern stellt auch eine Abkehr vom biblischen Narrativ dar. In diesem ist die Menschheitsgeschichte durch zwei utopische Orte eingerahmt: das Paradies als der ursprüngliche utopische Ort – und das himmlische Jerusalem, das dann im Zusammenhang mit der Wiederkehr Christi am Ende der Zeit errichtet wird. Das irdische Leben nach der Vertreibung aus dem Paradies und vor der Wiederkehr Christi ist jedoch aus Sicht der Kirche alles andere als ideal-utopisch und ihr Fokus liegt, anders als bei Morus und seinen Nachfolgern, auf der transzendenten Dimension, denn die (katholische) Kirche ist sich bewusst, dass wir in einer ‚gefallenen‘ Welt leben, die erst durch die Intervention des Göttlichen erlöst werden kann. Jegliche irdische Utopie ist deshalb immer nur als eine Annäherung an verlorene bzw. zukünftige paradiesische Zustände möglich und ist per definitionem fragil und temporär. Dies spiegelt sich vielleicht auch im Namen „Utopia“ selbst wider. Morus, der sowohl ein hoch gebildeter Humanist wie auch ein tiefgläubiger Mensch war, der für seinen katholischen Glauben 1535 den Märtyrertod erlitt und 1935 heiliggesprochen wurde, macht die Etymologie des Wortes „Utopia“ bewusst zweideutig. Es setzt sich aus den griechischen Elementen οὐ (‚nicht‘) und τόπος (‚Ort‘) zusammen, ist jedoch (beinahe) homophon mit εὖ (‚schön‘) und τόπος (‚Ort‘). Utopia ist sowohl ein ‚Nicht-Ort‘ wie auch ein ‚schöner Ort‘. Damit hat Morus all die Probleme, welche die realweltlichen utopischen Projekte des Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus etc. aufweisen, vorweggenommen. Ein im eigentlichen Sinne utopischer Ort kann nur ein Nicht-Ort sein, denn eine utopische Gesellschaft auf dieser Erde, so hat es die Erfahrung der letzten Jahrhunderte gezeigt, ist nur solange schön, wie sie nicht realisiert wird. In diesem Sinne gilt René Magrittes provokatives Motto abgewandelt auch für Utopien: Ceci n’est pas une utopie! Der ‚schöne Ort‘ ist immer auch gleichzeitig der ‚Nicht-Ort‘. Womit auch der Namensgeber der Utopie, der Heilige Thomas Morus, indirekt wieder im katholisch-christlichen Narrativ angelangt ist und wir für die Rückkehr in die Utopie des Paradieses wohl auf die Wiederkehr Christi warten müssen.


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