Vor 27 Jahren ereignete sich ein Genozid, ausgelöst durch religiöse, ethnische und politische Konflikte. Die post-sowjetische Situation destabilisierte den Balkan, den der slowenische Philosoph Slavoj Žižek als das “Unbewusste Europas” charakterisierte. Nicht nur der Beginn des Ersten Weltkrieges zeugt davon. Ein Bericht über einen Besuch in Sarajevo und den Versuch einer Aufarbeitung.
von Merle Jeßen
Da stand ich nun – in der Gallery 11/07/95 in Sarajevo – und starrte in den ersten Ausstellungsraum hinein. Ich blickte auf Schwarz-Weiß-Portraits, aneinandergereiht, sämtliche Portraitierte mit leerem Blick. Die Auswahl der leeren Blicke ist in einer politischen Fotoausstellung einer weiteren Interpretation verpflichtet. Schnell zählte ich also „leere Blicke“ und „schwarz-weiß“ im Kopf zusammen und erkannte: Dieser Raum sollte an die Opfer von Kriegsverbrechen erinnern. Was ist den Menschen mit dem leeren, starren Blick widerfahren? Weshalb mussten sie sterben? Das sind die Fragen, denen sich in diesem Artikel gewidmet werden soll. Die Geschichten dieser Personen dürfen nicht in Vergessenheit geraten.
Wie das sozialistische Jugoslawien in Kriegen auseinanderbrach
Der Grund für den Ausbruch der Kriege in der damaligen Republik Jugoslawien, bestehend aus den heutigen Staaten Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Slowenien, Montenegro und Nordmazedonien, ist nicht einer Ursache zuzuordnen. Nachdem Slowenien als erste jugoslawische Nation im Dezember 1990 freie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden ließ und sich schließlich im Juni 1991 als unabhängiger Staat erklärte, kam es zu ersten Auseinandersetzungen – sowohl innerstaatlich als auch grenzüberschreitend – mit der jugoslawischen Volksarmee. Kroatien schloss sich im selben Jahr Slowenien an und erklärte nach einem Referendum mit einer Zustimmung von 94,7% ebenfalls dessen Loslösung von der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Nachdem die kroatische Armee Serb:innen aus der in Kroatien gegründeten Republika Srpska Krajina (RSK) zum Teil vertrieben hatte und 1992 ein Waffenstillstandsabkommen mit der Jugoslawischen Volksarmee vereinbart worden war, wütete der Krieg insbesondere in dem Gebiet des heutigen Bosnien und Herzegowinas weiter.
Kriegsverbrechen in Bosnien nahmen kein Ende
Zurück in der Fotogalerie: Ich ging einen Ausstellungsraum weiter und blickte auf eine Puppe mit losgelöstem Kopf, die auf einem Stück frischer Erde abgelichtet worden war. Die Fotografie der geköpften Puppe erinnerte an einem Horrorfilm á la Chucky, die Mörderpuppe, und deckte im Gegensatz dazu jedoch die absolute Realität ab. Das Spielzeug diente der Markierung eines Fundortes – eines Fundortes, welcher nach Verwesung und Tod gerochen haben muss. Also doch ein Horrorfilm. Jemand Unbekanntes, der oder die etwas Schreckliches beobachtet hatte, platzierte die Puppe an einem Ort in den Wäldern von Sarajevo. Dort entdeckten Ermittler:innen ein Massengrab, in welchem Kriegsverbrecher:innen ermordete bosnische Muslime mit Erde überschütteten. Warum wurden diese unschuldigen Männer ermordet, fragte ich mich. Darauf weiß die Ausstellung in Sarajevo auch keine Antwort. In einem ethnisch bedingten Krieg ist die Intoleranz gegenüber einer religiösen Gruppierung zumeist unerklärbar. Der Hass zwischen orthodoxen Serb:innen, katholischen Kroat:innen und muslimischen Bosnier:innen forderte rund 100.000 Tote und bis zum heutigen Tag tausende Vermisste.
Srebrenica – eine Erinnerung an das, was nie vergessen werden darf
Das, was in Srebrenica geschah, stellt den dramatischen Höhepunkt der Jugoslawienkriege dar. Es stellt – auch wenn es Serbien bis heute nicht als solches anerkennen will – einen Genozid dar. Er geht seit Ende des Zweiten Weltkrieges als einer der größten in die Geschichte ein. Serbische Nationalist:innen nahmen weite Teile Bosniens und Herzegowinas ein und zwangen die Bevölkerung, vor allem Bosniak:innen, zur B innenflucht. Da die Vereinten Nationen Srebrenica im April zu einer UN-Sicherheitszone erklärten, flüchteten tausende Menschen dorthin. Doch als sicher galt die Zone nur für eine kurze Zeit. Zu viele Menschen standen vor den Toren des von UN-Soldat:innen geschützten Gebietes, zu viele serbische Soldat:innen rückten vor, zu viele ergebnislose Verhandlungen zwischen den niederländischen Blauhelm-Soldat:innen und den serbischen Nationalist:innen fanden statt, zu wenige UN-Soldat:innen wurden nach Bosnien und Herzegowina entsandt, zu wenige Waffen konnte das UN-Mandat zur Gegenwehr einsetzen, da sie schlichtweg nicht vorhanden waren. Gelinde gesagt: Die niederländischen Blauhelme waren komplett überfordert mit der Situation in der ‚safe area‘ und wussten nicht, wie sie das Vorrücken und die mögliche Einnahme der Sicherheitszone in Potočari durch die serbischen Anführer Ratko Mladić und Radovan Karadžić und deren Armee verhindern sollten. Zu einer unrealen ersten Situation kam es, als Ratko Mladić Thom Karremans zu einem gemeinsamen Gespräch in einem nahegelegenen Hotel einlud und das weitere Vorgehen verhandeln wollte. Der serbische Befehlshaber bot dem niederländischen Blauhelm-Truppenführer an, die vielen Menschen auf dem Gelände der UN-Sicherheitszone in Potočari mit Bussen in die benachbarten Gebiete in Kroatien zu transportieren. Karremans nahm das Angebot an. Ihm blieb nichts anderes übrig. Eine humanitäre Krise, die in der Sicherheitszone drohte zu eskalieren, wollte er nicht verantworten. Dann kam es am 12. Juli 1995 zu einer noch unrealeren Situation. Wie vereinbart betraten Ratko Mladić und sein Gefolge die Sicherheitszone – mit den Bussen, die die Menschen in Sicherheit bringen sollten. Doch schnell eskalierte die Lage. Die serbisch-nationalistischen Soldat:innen trennten Frauen und Kinder von ihren Männern und Söhnen. Die Blicke, die diese Menschen zwischen den Fensterscheiben ihrer zugeordneten Busse ihren geliebten Angehörigen widmeten, sollten ihre letzten sein. Ein großer Teil der Männer wurde bereits auf dem Militärgelände von den Soldat:innen der Republika Srpska ermordet. Eine nicht weniger große Zahl wurde in nahegelegenen leerstehenden Gebäuden zusammengepfercht und hingerichtet. Das Massaker an diesen Tagen im Osten Bosniens und Herzegowinas kostete 8.372 Menschen das Leben. Bis heute werden 7.000 Menschen dieser Region vermisst – besser gesagt: ihre Leichen.
Die Schuldfrage
Am Ende der Fotoausstellung angelangt, stand ich nun vor der Graphikdesign-Ausstellung Greetings from Sarajevo des Künstler:innenkollektivs TRIO. Eines ihrer Kunststücke bildet eine Postkarte ab, die im Logodesign von Coca-Cola entworfen ist. Anstelle des Coca-Cola-Schriftzuges steht in der gleichen Serifenschriftart „Enjoy Sarajevo 1993“. In Verbindung zu
westlichen Firmen wie Campbell, Absolut Vodka oder eben Coca-Cola setzt das Künstler:innentrio den Krieg in Bosnien mit der Assoziation, die Dringlichkeit des Eingreifens durch den Westen und damit der Vereinten Nationen zu betonen. Nicht nur auf Seiten der muslimisch-bosnischen Bevölkerung, auch auf Seiten von EU-Staaten bestand die Kritik, dass sowohl die niederländischen Blauhelme und somit Karremans falsch handelten als auch die Vereinten Nationen sich mit zu großer Vorsicht zurückhielten. In dem Gerichtsverfahren Mothers of Srebrenica vs. State of The Netherlands and the United Nations brachte eine Initiative von 6.000 Müttern, die ihre Ehemänner und Söhne bei dem Genozid von Srebrenica verloren, die nach ihnen zur Verantwortung zu ziehenden Parteien vor das Kriegsverbrechentribunal in Den Haag. Die Anklage scheiterte an der Immunität der Vereinten Nationen und deren Mitgliedsstaaten – und in diesem Fall an der Beteiligung der Niederlande an einer UN-Mission. Ich verließ die Fotogalerie, schlenderte durch das historische Zentrum der bosnischen Hauptstadt in Richtung Gelbe Bastion und kam an dem muslimischen Friedhof Kovači vorbei. Reihe an Reihe weißer Grabsteine fügen sich Sarajevos Erhebungen und bilden ein weißes Meer – in Gedanken an die Opfer dieser schrecklichen Gräueltaten. Hätte die Weltgemeinschaft dieses weiße Meer, das das Stadtbild Sarajevos heute einnimmt, verhindern können?
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