Vor dem Krieg galt Kyjiw als Hotspot der europäischen Techno-Szene. Mittlerweile gewöhnen sich die Menschen an unaufhörlichen Luftbeschuss und Schutzräume. Unser Gastautor, der 2021 ein halbes Jahr in Kyjiw gewohnt hat, berichtet über eine Kultur im Ausnahmezustand.
von Tim Wenzel
Die Lenkrakete am Morgen des 10. Oktobers hat den Shevchenko Park getroffen. Jenen Park, der noch vor wenigen Monaten auf meinem Arbeitsweg lag. Jenen Park, in dem sich alte Menschen aus der Nachbarschaft zum Schach spielen trafen, wo Zakhar und ich nach der Mittagspause immer Kaffee getrunken haben, in dem Kinder unter der Statue des Nationaldichters Taras Shevchenko spielten.
Zwischen Allgegenwärtigkeit und Ausgehviertel
Taras Shevchenkos Statue ist schon seit vielen Monaten umhüllt von einem Schutzmantel aus Sandsäcken gegen Luftangriffe. Diese schützen fast jede Statue in Kyjiw und wurden von Freiwilligen in den ersten Kriegstagen errichtet. Es ist nur einer von vielen Unterschieden zu dem Kyjiw vor der groß-angelegten russischen Invasion. Doch wie war das Leben in Kyjiw vor diesem Krieg? Russland greift die Ukraine seit 2014 an, bis zum 24. Februar dieses Jahres im Donbas im Osten und auf der Krym im Süden, seit dem 24. Februar das ganze Land. Obwohl Kyjiw weit entfernt vom Donbas ist, war der Krieg dennoch immer präsent. Die Plaketten an den Häusern, die an die im Krieg gefallenen Soldat*innen erinnerten, waren allgegenwärtig während das Leben seinen Lauf nahm. Kyjiw ist eine europäische Großstadt und in vielerlei Hinsicht ähnlich wie jede andere. Auf der Haupteinkaufsmeile im Zentrum, dem Chreschtschatyk, reiht sich Edelkaufhaus neben Souvenirshop und zwischendrin die omnipräsenten Kaffeebuden. Das Ausgehviertel Podil war geprägt von einem Mix aus alten, sympathisch abgeranzten Kneipen und schicken Cocktailbars. Ausstellungen zeitgenössischer Kunst waren europaweit bekannt. All das prägte den Alltag in Kyjiw – bis zum 24. Februar. Kyjiw ist für mich ein Mix aus Flohmarkt, Technoclubs, Kastanienbäumen und einer grandiosen Café-Kultur. Leider konnte ich nur ein halbes Jahr in der Hauptstadt verbringen, mit einem Job beim Goethe-Institut. Und doch hat die Zeit gereicht, um mich in diese Stadt zu verlieben. Mitte Februar kam dann die plötzliche Ausreise-Aufforderung des Auswärtigen Amts, zu einer Zeit, in der die ganze Welt schon über Kyjiw und die Ukraine sprach. Eine Aufmerksamkeit, die diese Stadt verdient, jedoch aus anderen Gründen.
Interkulturalität durch Techno
Das Leben in Kyjiw hat sich in den vergangenen Monaten sehr gewandelt. Während der ersten Kriegstage gab es massiven Beschuss, doch nach harten Kämpfen konnte die Ukraine Anfang April die Schlacht um Kyjiw für sich entscheiden. So gibt es derzeit zwar keine russischen Bodentruppen in oder um Kyjiw, aber der Beschuss aus der Luft geht unaufhörlich weiter. Mariupol, Cherson, Butscha – diese Städte erlangten, wie viele andere, in den letzten Monaten tragische Berühmtheit. Ihre Namen stehen heute für Zerstörung, Militärbesatzung
und Genozid. Doch eigentlich gibt es dort so viel mehr, das warm-weiche Asowsche Meer von Mariupol, die imposante Hafenfront von Cherson oder den verwunschenen Wald von Butscha. In den letzten Jahren, insbesondere seit der Revolution der Würde (auch Euromaidan) und dem Beginn des Kriegs im Donbas 2014, entwickelte sich in Kyjiw eine Technoszene, die europaweit bekannt und insbesondere mit der Berliner Szene eng verknüpft war. So ist es kein Wunder, dass Clubs wie ∄, Otel, Closer oder Arsenal weit über die Grenzen der Ukraine bekannt sind und regelmäßig ukrainische wie internationale DJs anzogen. „Kyjiw ist das neue Berlin“ – ein viel gehörtes, jedoch auch zu kritisierendes Narrativ. Ab Februar galt das andersherum. Berlin wurde das neue Kyjiw. Berlin ist neben Warschau der wohl wichtigste Exil-Standort der Kyjiwer Technoszene. Doch auch vor der großen Invasion waren die Verbindungen nach Westeuropa und insbesondere nach Berlin vor allem im Nachtleben merklich spürbar. Die Billigflieger zwischen Berlin und Kyjiw waren dauerhaft gut gefüllt mit Technojüngern aus beiden Städten. Deutsche DJs waren Stammgäste in den besten Clubs Kyjiws und ukrainische DJs wie DJ Nastiia, Poly Chain oder Borys sind weltweit gefragt. Die Szene in Kyjiw ist divers, jung, queer, gut vernetzt und ein aktiver Teil einer starken Zivilgesellschaft. Diese Verbindung nach Westeuropa war in der Ukraine schon lange vor diesem Krieg spürbar. Erst jetzt richtet sich aber auch der westeuropäische Blick in die Ukraine. Im September bin ich für knapp zwei Wochen wieder in die Ukraine gereist, den Großteil der Zeit habe ich in Kyjiw verbracht. Meine Eindrücke kann ich nur als ambivalent beschreiben. Das Leben geht weiter, soviel steht fest. Die (meisten) Cafés haben offen, die U-Bahn fährt im leicht ausgedünnten Drei-bis-vier-Minutentakt, die Bäume wechseln langsam ihre Farbe von grün zu gelb. Auf einem Konzert der Indie-Band Latexfauna spricht mich Victor an. Er fragt mich dreimal nach meinem Namen und erzählt stolz, dass er gerade „voll auf MDMA“ sei. Victor unterscheidet sich äußerlich wenig von den anderen Konzert-Besucher*innen. Markant ist sein Schnauzbart und erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass sein Haarschnitt dem eines Kosaken ähnelt, den ukrainischen berittenen Kämpfern des 18. Jahrhundert. Als wir später nochmal ins Gespräch kommen, erwähnt er, dass er für drei Tage in Kyjiw auf Heimatbesuch wäre. Ende Februar war er der Armee beigetreten. Vorher arbeitete er im IT-Sektor und ist daher nun in seiner Einheit für die Telekommunikation zuständig. Drei Tage im Monat hat er in der Regel frei, die verbringt er in seiner Heimatstadt Kyjiw. Dann trägt er seine Adidas-Trainingsjacke, auf Instagram präsentiert er sich mittlerweile in Flecktarn und mit Sturmgewehr. Wir haben Glück, während des Konzerts gibt es keinen Luftalarm, beim Bier danach sieht es anders aus. Doch auch die Sirenen haben mittlerweile ihren Schrecken verloren. In den Schutzraum gehen (jetzt) die wenigsten, das Bierglas ist schließlich noch voll. Und so wird angestoßen. Traditionell gibt es dafür eine Reihenfolge: der erste Drink des Abends ist für das Kennenlernen, der zweite für die Freund*innenschaft und der dritte für die Liebe. So nimmt der Abend seinen Lauf, zumindest bis halb zehn. Dann fährt die letzte Metro, ab 23 Uhr herrscht eine strikte, militärische Ausgangssperre. Das Nachtleben hat sich dadurch in den Tag verlagert. Partys enden meist gegen 21 Uhr. Doch es finden sich neue Wege. Nicht nur Wege, um Spaß zu haben, sondern auch Wege, ein aktiver Teil der Zivilgesellschaft zu bleiben. So fertigen die Deko-Teams der Clubs Tarnnetze für die Armee, die Location wird als Essensausgabe für Bedürftige genutzt, es wird international Geld gesammelt und nicht zuletzt auch tatkräftig angepackt. Im Dorf Yahidne zwischen Kyjiw und Tschernihiw organisierte ein Kollektiv einen ‚Clean-Up Rave‘. Dabei wurde das Haus der Kultur im Dorf von Schutt befreit, der durch russischen Beschuss entstanden ist. Diese und andere Initiativen zeigen, dass die Kultur- und Musikszene ein wichtiger Teil der ukrainischen Zivilgesellschaft geworden ist. Beim Anstoßen gibt es nun eine neue Reihenfolge: der erste ist auf den Sieg, der zweite ist auf die Streitkräfte und der dritte wie eh und je auf die Liebe. Auf Ukrainisch: Za peremohu, za ZSU, za kochannja.
DISCLAIMER:
Der Autor war im September 2022 in Kyjiw, die Situation damals war eine sehr andere als zum Redaktionsschluss Anfang November. Durch massive russische Angriffe auf zivile Infrastruktur ist die Strom-, Heizungs-, Wasser- und Internetversorgung in Kyjiw und vielen weiteren Regionen des Landes massiv eingeschränkt. Das Leben hat sich stark verändert und Strom (und damit auch eine Internetverbindung) gibt es oft nur für wenige Stunden am Tag. Der Alltag ist massiv gestört und von einem Besuch kann derzeit nur abgeraten werden.
Tim Wenzel studierte Soziologie und Humangeographie an der FSU Jena, seine Bachelorarbeit schrieb er 2021 über verschiedene Erinnerungsnarrative an den Zweiten Weltkrieg in der Ukraine. Nach dem Bachelor zog er im Sommer 2021 nach Kyjiw und arbeitete beim Goethe-Institut. Seit dem Frühjahr 2022 wohnt er in Dresden und studiert Soziologie und Osteuropastudien an der TU Dresden und FU Berlin. Im September 2022 verbrachte er zwei weitere Wochen in der Ukraine, hauptsächlich in Kyjiw.
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