Wenn Wissenschaftler:innen vom Klimawandel berichten, werden sie oft für ihre ‚Panikmache‘ kritisiert. Machen wir doch stattdessen ein kleines Gedankenexperiment zum Entspannen.
von Justina
Ich möchte dich mit auf eine Traumreise nehmen. Setze dich dazu an einen ruhigen Ort. Vielleicht möchtest du dich auf eine schöne, schattige Parkbank setzen, oder du genießt die Kühle deiner Räumlichkeiten. Nun atme tief ein und aus, bis du ganz entspannt bist. Der Alltag verschwindet ganz langsam und du befindest dich im Jahre 2050. Es ist ein heller Sommertag. Die Sonne brennt. Unter deinen Füßen knistert trockenes Gras und Laub. Grillen zirpen und Mücken umschwirren dich, angezogen vom Geruch deines Schweißes. Tigermücken, denkst du, und ziehst die Ärmel deiner langen Kleider auch über die Hände. Du stellst dir die lange Reise vor, die diese kleinen biestigen Viecher hinter sich haben. Auf großen Containerschiffen kamen sie übers Meer, diese mickrigen Larven. Sie hielten Einzug in Deutschland und machten es sich in den hitzigen Großstädten gemütlich, wo Menschen und Tiere immer näher zusammenrücken. Du erinnerst dich an deine letzte Denguefieber-Infektion und kannst mit Respekt behaupten, dass der Begriff Knochenbrecherfieber nicht von ungefähr ist. Gut, dass dich das West-Nil-Fieber bisher verschont hat, das Risiko einer Gehirnhautentzündung möchtest du dir wirklich sparen.
Du denkst an die verheerende Dürre, die über Deutschland liegt und fragst dich, ob es je wieder einen Sommer geben wird, in dem es nicht zu Ernteausfällen oder Rohstoffknappheit durch Wassermangel kommt. Du stellst dir diese riesigen Transportschiffe vor, wie sie wie zappelnde Fische im Schlamm des Rheins feststecken, weil es seit Wochen nicht geregnet hat. Die Lieferkette ist so fragil, denkst du und atmest wieder tief durch.
Stelle dir jetzt die staubige Luft vor, die du atmest, wenn du durch den Thüringer Nationalpark Hainich spazierst. Du tastest mit den Fingerspitzen über die raue Borke, die trocken sofort abbröckelt. Diagnose: Schädlingsbefall. Der Harz rinnt. Dieser Buchenschleimfluss erinnert an dunkelrote Wunden. Diese einst so stattlichen Bäume sind leider nicht mehr zu retten. Hättest du doch damals, einer Anwandlung von aktivistischem Geist folgend, nicht einfach wahllos irgendwelche Bäume angepflanzt, ohne dich vorher über deren Überlebenschancen schlauzumachen, denkst du. So eine Verschwendung. Das produktive Biotop von damals ist Geschichte.
Konzentriere dich wieder ganz auf dich und fühle, wie aus deinen Armen Flügeln wachsen. Du bist nun ein Kuckuck auf seiner unermüdlichen Heimreise aus dem Winterdomizil südlich des Äquators. Schwing dich in die Lüfte, Langstreckenzieher, und begib dich auf den Weg in die deutsche Flur. Nichtsahnend kehrst du wieder, um deine Eier Bachstelzen, Teichrohrsängern und Grasmücken unterzujubeln. Doch leider hat in Deutschland der Frühling schon längst eingesetzt und besagte Vögel haben ihren Brutvorgang bereits abgeschlossen. Du kommst leider zu spät. Wir werden dein Rufen vermissen.
Gedanklich stattest du nun Brandenburg einen Besuch ab. Du trägst eine Atemmaske, denn über den Städten hängt gelber Nebel und es riecht nach Kamin. Keine schöne Vorstellung.
Stelle dir stattdessen vor, wie du auf einem künstlich aufgeschütteten Deich sitzt. Während du deine Füße in den Sand gräbst, muss du an den akuten Sandmangel denken, der irgendwo dort draußen in der Welt herrscht. Auf deinem Handydisplay siehst du die Karte der ostfriesischen Inseln. Sie sind in einem dunklen rot eingefärbt und stark flutgefährdet. Pellworm, Rügen, Darß und Usedom – auch die Ostseeinseln liegen teilweise unter dem Meeresspiegel.
Lasse deine Gedanken fallen, so wie der Starkregen auf die überschwemmungsgefährdeten Gebiete Deutschlands fällt. Denke an die Sturmflut im Ahrtal zurück und stelle dir vor, dass solche plötzlich auftretenden Wassermassen keine Seltenheit mehr sind. Die Nordseeküste, die Mittelgebirge, das südliche Nordrhein-Westfahlen, Teile von Rheinland-Pfalz, Hessen, Südthüringen, Ost- und Mittelbayern. Alle die dort leben, müssen überteuerte Versicherungen gegen wetter- und klimabedingte Naturgefahren abschließen. Deine Stimmung färbt sich grau. Grau, wie der heiße Beton, der in den Großstädten für unerträgliche Temperaturen sorgt. Sowohl tagsüber als auch nachts.
In Deutschland waren 12 bis 13 Hitzetage pro Jahr bisher Normalität. 2050 werden es schon 36 (Nord-, West- und Ostdeutschland) bis 43 (Süddeutschland) sein. An einem Hitze- oder auch Tropentag übersteigen die Temperaturen die 30-Grad-Marke.
Berlin:
früher: 5 heiße Tage
2050: 20 heiße Tage
Frankfurt/Main:
früher: 11 heiße Tage
2050: 22 heiße Tage
Köln: früher: 20 heiße Tage
2050: 42 heiße Tage
Stuttgart:
früher: 30 heiße Tage
2050: 60-70 heiße Tage
Denke über die Frage nach, wann du zum letzten Mal eine laue Sommernacht verlebt hast. Falle in Gedanken schwer in deine Matratze. Auf die Decke kannst du heute wieder getrost verzichten. Hülle dich stattdessen in kühle Ventilatorenluft und lausche dem dunklen Summen, denn auch in dieser Nacht werden sich die Temperaturen nicht auf unter 20 Grad Celsius abkühlen. Sei vorsichtig, dass du dich nicht erkältest!
Tropennacht
Eine Tropennacht ist eine Nacht, in der die niedrigste Lufttemperatur zwischen 18 und 6 Uhr nicht unter 20 Grad Celsius fällt. Zum Vergleich: in den 1980ern waren in Deutschland 6 Tropennächte pro Jahr der Durchschnitt. 2050 werden es schon 20 sein. Manche Städte haben bis heute noch keine einzige Tropennacht erlebt. Das wird sich in den nächsten 30 Jahren ändern.
Das Ganze erinnert dich an deine Sommerferien in Italien. Du kannst dich nun freuen, denn für warme Temperaturen musst du in Zukunft nicht mehr gen Süden fahren.
Deutsche und Europäische Städte – und welches Klima sie in Zukunft haben werden
Berlin- Toulouse (Frankreich)
Dresden- Knin (Kroatien)
Köln- San Marino
München- Mailand (Italien)
Kiel- Gourdon (Südfrankreich)
Madrid- Marrakesch (Marrokko)
London- Barcelona
Mailand- Dallas (USA)
Reise in Gedanken durch Deutschland und verweile an dem Ort mit der höchsten Temperatur. Die 45 Grad Celsius sind ein seltener Besucher. Du kennst sie bereits aus deinem Dubai-Urlaub und erinnerst dich an die künstlich belüfteten Fußgängerzonen und die Sprenkelanlagen, die dein Gesicht mit einer dünnen Schicht Sprühregen benetzen. Hoffe, dass sich die deutsche Politik in den nächsten 10 Jahren zu einer Anpassung der Infrastruktur an die Klimaverhältnisse bequemt, denn du weißt, Klimaanlagen sind teuer in der Beschaffung und Neubauten dünnwandig und lichtdurchflutet. Was du möchtest, ist eine kühle Altbauwohnung mit dicken Mauern in einer möglichst schmalen Straße, sodass du bei drückenden Temperaturen einen geeigneten Rückzugsort hast.
Stelle dir diesen nun vor und komme langsam wieder zu dir zurück. Vielleicht möchtest du jetzt ein kaltes Getränk schlürfen, deine Füße in kühlem Wasser baden oder ein spannendes Buch lesen. Möglicherweise könnte dieses Buch Deutschland 2050. Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird heißen.
Aprikosen aus Hamburg, Kühlräume für Berlin, Steppenlandschaft in Brandenburg, Tigermückenplagen im Rheinland und Hochleistungskühe im Hitzestress. Der Klimawandel ist in aller Munde, trotzdem ist er für viele eine noch recht abstrakte Vorstellung. In ihrem Buch „Deutschland 2050. Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird“ zeigen die Autoren Nick Reimer und Toralf Staud eindrücklich die Auswirkungen, die die Veränderungen mit sich bringen werden. Die 14 Kapitel beschäftigen sich damit, wie sich das Klima auf die menschliche Sicherheit und Gesundheit, auf Städte, Verkehr, Wirtschaft, und Politik auswirkt ebenso wie auf Tiere, Wasser, Wald und Küste. Dabei werden Klimamodelle erläutert sowie Experten interviewt. Ein:e Jede:r wird erfahren können, mit welchen Herausforderungen man es in den nächsten Jahren zutun haben wird. Eine aufrüttelnde Zeitreise in die Zukunft.
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