Endlichkeit in der biopolitischen Moderne: Der Club of Rome, Harry Potter und die Queen

Was haben die Queen, der Club of Rome und Harry Potter gemeinsam? Sie alle feiern in diesem Jahr Jubiläum und sie alle erzählen in bestimmter Weise von einem problematischen Umgang des Menschen mit seiner eigenen Endlichkeit.

von Renke

Wie jedes Jahr, ist auch das Jahr 2022 gespickt mit Jubiläen und Jubilaren. Die Queen durfte zuletzt in den Genuss kommen und ihr 70. Thronjubiläum feiern. Eine so lange Regentschaft gelang keiner anderen Königin vor ihr. Manche*r Verschwörungstheoretiker*in mag da skeptisch die Gattung des Adelsgeschlecht hinterfragen und der*die ein oder andere Unternehmer*in aus dem Silicon Valley neidisch und neugierig auf ihr Geheimnis für ein solch langes, erfolgreiches und gesundes Leben blicken. Vielleicht sind Bill Gates und Co. auch schon persönlich vorstellig gewesen und haben das Erbgut der Queen nach speziellen Gensequenzen untersucht, die im Stande sind, den Tod möglichst weit zu verzögern. Vielleicht fanden sie statt des genetischen Materials auch lediglich binäre Codes, mit deren Hilfe die hoheitliche Software auf Unsterblichkeit programmiert wurde.

Silicon Valley und das ewige Leben

Solche Vorstellungen sind natürlich illusorisch und das jähe Ende macht auch vor der Queen nicht halt. Doch von genau einer solchen Programmierbarkeit des menschlichen Körpers sind viele im Silicon Valley überzeugt. Dort ist der Tod nur eine von vielen Grenzen, die es mit Hilfe technischer Innovation zu verschieben gilt, um aus vermeintlicher Utopie Realität werden zu lassen. ‚Biologische Reprogrammierung‘ heißt der Vorgang, mit dem Biotech-Start-ups, wie beispielsweise Alto Labs, daran arbeiten, gealterte Zellen in einen früheren, vitaleren Zustand zurückzuführen. Andere Unternehmen und Organisationen in der Bay Area San Franciscos verfolgen ähnliche Ziele und versuchen altersbedingte Krankheiten zu verstehen und zu bekämpfen. Und es stimmt, neueste wissenschaftliche Methoden, wie die Genschere CRISPR oder die mRNA-Technik erlauben einen gezielten technischen Eingriff in den menschlichen Körper, um unangenehme Begleiterscheinungen des Lebens zu beseitigen. Der technische Geist des Silicon Valley macht es möglich ein noch längeres und gesünderes Leben zu führen als die britische Queen. Aber ist ein solch grenzenloses Leben auch erstrebenswert?

Der Tod als Verhandlungsfrage

In der Wochenzeitung „Die Zeit“ erschien zu Beginn der Coronapandemie ein Artikel mit dem Titel: „Vom guten Recht zu überleben“. Die Autorin Elisabeth von Thadden verweist dort auf die Errungenschaften der biopolitischen Moderne und den historischen Fortschritt, dass moderne Gesellschaften nicht mehr bereit seien, den vorzeitigen Tod zu tolerieren. Es sei nun eine offene Macht- und Verhandlungsfrage, welcher Tod als vorzeitig und vermeidbar und welchen es zu verhindern gilt. Während es bei dem Coronavirus einen recht schnellen gesellschaftlichen Konsens zu dieser Frage gab und entsprechende Maßnahmen eingeleitet wurden, scheint die Verhandlung darüber, ob der Klimawandel einen vorzeitigen und vermeidbaren Tod bedeutet und ob er entsprechend verhindert werden sollte, nach wie vor nicht abgeschlossen. Und so kommt es, dass auch hier ein Jubiläum ansteht. Vor 50 Jahren erschien der erste Bericht des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums. Doch hier mag nicht annähernd so viel Partystimmung aufkommen wie bei der 90-jährigen Jubilarin Elizabeth II. Angesichts der apokalyptischen Botschaft des Berichts ist das wenig verwunderlich: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit führt dies zu einem ziemlich raschen und nicht aufhaltbaren Absinken der Bevölkerungszahl und der industriellen Kapazität.“

Der Tod des Menschen im Tod Gottes

Vielleicht ist auch gerade deshalb der Wunsch nach Grenzenlosigkeit und Unsterblichkeit so groß. Je weiter der Tod seine Arme ausbreitet, desto drängender wird die Suche nach einem Ausweg aus seinen Klauen. So ähnlich zumindest sah es der französische Philosoph Michel Foucault, der den von Friedrich Nietzsche postulierten Tod Gottes um den Tod des Menschen erweiterte. Der Germanist Robert Weninger hat das folgendermaßen gedeutet: „Der endgültige Tod Gottes im Bewusstsein des Menschen lässt den endgültigen Tod des Menschen im Bewusstsein der Menschen als möglich erscheinen, denn wo Gott die Menschheit nicht mehr retten kann, wie in der Vorstellung vom Jüngsten Gericht, da tritt die Natur als todbringende Kraft umso maßgeblicher und unwiderruflicher in den Vordergrund […]. Wo selbst Gott sterblich ist, muss der Mensch (als Gattung) erst recht sterblich sein.“ Die Antwort der Menschheit auf die eigene Endlichkeit war jedoch nicht etwa Einsicht und die Unterwerfung unter diese unumstößliche Tatsache. Stattdessen nahm der Mensch den freigewordenen Platz Gottes ein und führte die Menschheit an jenen Punkt, an den sie nun gelangt ist.

Biopolitik und ihre Kehrseite

Die Problematik der Moderne entfaltet sich also gar nicht so sehr am Begriff des Wachstums, sondern viel mehr am Umgang mit der Endlichkeit, in welchem das Streben nach Wachstum inbegriffen ist. Denn Foucault zufolge sei es die „Drohung des Todes“, die den Menschen dazu treibe, immer mehr Böden zu beackern und zu kultivieren, um der steigenden Bevölkerung gerecht zu werden. Die moderne Ökonomie finde ihr Prinzip nun „in jenem gefährlichen Gebiet, in dem das Leben dem Tod gegenübersteht“. Dies ist das Kennzeichen der Biopolitik, in welcher es um die Durchsetzung des Lebens geht und der Tod keinen geeigneten Platz mehr findet. Die Idee vom ewigen Leben stellt die Perfektion dieses biopolitischen Modus dar.
Doch wie kann ein geeigneter Umgang mit dem Tod aussehen? Schließlich ist der Überlebensinstinkt ein aufs Tiefste im Menschen wie in jedem anderen Lebewesen verankerter Trieb. Problematisch wird es vor allem an dem Punkt, an dem das eigene Leben über das Leben anderer gestellt wird. Rassismus, Artensterben, Ausbeutung der Ressourcen – all das sind Begleiterscheinungen einer auf das Leben ausgerichteten Politik. Die Optimierung des Lebens geht immer mit dem Tod oder mit dem Leiden von anderen und anderem einher. Das gilt im medizinischen Bereich, wo der Zugang zu Impfstoffen oder anderen Medikamenten häufig nur besser gestellten Menschen möglich ist, und das gilt in Bezug auf den Klimawandel, dessen Auswirkungen insbesondere ärmere Bevölkerungsgruppen aus dem globalen Süden zu spüren bekommen – ganz zu schweigen von den Schäden an der Natur und ihren Lebewesen.

Wahre Freiheit

Für Visionäre wie Elon Musk oder Jeff Bezos ist aber auch der Klimawandel nur eine dornige Chance, um zu neuen Ufern beziehungsweise neuen Planeten aufzubrechen und um nicht nur die zeitliche Mauer des Todes einzureißen, sondern auch die räumlichen Grenzen unserer Welt zu überwinden.
Foucault dagegen sah im Tod die eigentliche, wahre Freiheit begriffen. Wahrheit betrachtete er als eine subjektive Ethik, die mit dem Risiko und dem Mut verbunden ist, den Tod auf sich zu nehmen. Nur dann könne der Mensch sich von den Zwängen lossagen, wie wir sie heute in den Narrativen von Fortschritt, Wachstum und Unendlichkeit wiederfinden. Die Aufklärung jedoch habe ein solches „spirituelles“ Wissen verdrängt und das Subjekt der Fähigkeit beraubt, einen Zugang zur Wahrheit zu erlangen, statt von vorherrschenden Wahrheiten strukturiert und subjektiviert zu werden.

Harry Potter als moderner Parrhesiastiker

Um mit einem weiteren Jubiläum abzuschließen: Am 26. Juni 1997 erschien der erste Teil der Harry Potter Bücher. 25 Jahre später hat die Geschichte weltweiten Erfolg gesammelt und Millionen von Menschen begeistert. Die Erzählung der britischen Autorin Joanne K. Rowling lässt sich dabei auch als eine Geschichte über den Tod lesen, welche die allzu klare Moral enthält, dass jegliche menschliche Bestrebungen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, ins Leere laufen. Harry muss sich am Ende seinem Antagonisten Lord Voldemort stellen und dem Tod ins Auge blicken. Dieser Tatsache ist er sich sehr bewusst und weiß um die Notwendigkeit seines eigenen Todes, denn nur dann kann Voldemort sterben, der hier im übertragenen Sinne den modernen Menschen verkörpert, der keinen geeigneten Umgang mit dem Tod findet. Mit der Bereitschaft zum Sterben und dem Wissen um die Wahrheit, die er mit dem Tod in Kauf nimmt, besiegt Harry letztlich Lord Voldemort und so ist er es, der entgegen seinen Bestrebungen am Ende stirbt und Harry, der trotz seines vermeintlichen Todes, am Ende leben kann. In diesem Mut hätte Foucault die wahre Freiheit erkannt, eine Praxis, die er, der griechischen Antike entlehnend, parrhesia nannte: „Die Parrhesiastiker sind jene, die im Grenzfall den Tod um des Sagens der Wahrheit willen akzeptieren […]. Nun, darin scheint mir der Kern des Wesens der parrhesia zu bestehen“. In diesem Sinne symbolisiert Harry Potter den modernen Parrhesiastiker und vermittelt die Moral, dass das Streben nach ewigem Leben und die Verdrängung des Todes töricht sind.


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