In den letzten 30 Jahren geschah innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegung wenig – so stellen es zumindest Kritiker dar. Dafür veränderte sich das Klima umso mehr. Wie reagieren grüne Bewegungen darauf? Sind Auswege aus den ideologischen Dilemmata in Sichtweite? Ein unique-Redakteur fragt beim Vorstandsmitglied der Grünen Thüringen Justus Heuer nach.
unique: Der marxistische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek beschrieb bereits 1992 drei verschiedene dominante Reaktionen auf die Klimaerwärmung: 1. die fetischistische Verleugnung, die sich in der Form „Ich weiß sehr wohl, dass die Lage ernst ist, aber dennoch möchte ich, dass alles so bleibt, wie es ist.“ ausdrückt; 2. die obsessiv neurotische, die im Gegensatz zur Verleugnung eine fieberhafte Aktivität im Sinne von „Trennst du deinen Müll? Verzichtest du auf tierische Produkte?“ abverlangt, um eine Katastrophe abzuwenden; schließlich 3. die psychotische Reaktion, die eine verborgene Bedeutung in die Natur hineinprojiziert und nicht selten mit „Mutter Natur“-Metaphern hantiert. Hat sich daran deiner Meinung nach in den letzten 30 Jahren etwas verändert?
Justus Heuer: Ich glaube, die erste Reaktion gibt es sehr wohl und sie ist eine sehr wesentliche, aber nicht die dominanteste. Ich denke, die Mehrheit der Menschen heute ist klar neurotisch. Sie sagen, wir haben das Problem und wir müssen etwas dagegen machen, und da gibt es zwei verschiedene Ansätze: Der eine ist der individuelle, im Sinne von „Ich muss mein Leben ändern, um so wenig wie möglich zu diesem Problem beizutragen“, und der andere ist der systemische, also „Das System muss sich ändern“. Das Problem ist nun, dass der individuelle Ansatz nur dann funktionieren könnte, wenn ausnahmslos alle mitmachen würden. Das wird aber nicht passieren. Es gibt auch einfach zu viele systemimmanente Komponenten, die verhindern, dass individuelles Handeln in gewünschtem Sinne erfolgreich sein könnte. Studien haben nun aber gezeigt, dass der individuelle Ansatz für Entscheidungsträger:innen trotzdem sinnvoll ist, weil er eine Vorbildfunktion erfüllt. Dadurch wird nicht nur die Glaubwürdigkeit erhöht, sondern auch Wahrscheinlichkeit, dass Wähler:innen einem systemischen Ansatz zustimmen. Beide Ansätze sind also wichtig, aber an unterschiedlichen Stellen. Von der psychotischen Reaktion kenne ich kaum welche – sind das nicht eher Leute aus dem esoterischen Raum?
Man könnte die in der Naturwissenschaft beliebte Wendung eines „natürlichen“ Gleichgewichtes auch als einen Ausdruck einer psychotischen Abwehrreaktion sehen. Wenn man glaubt, dass die Natur stets nach einem Gleichgewicht strebe, ignoriert man immerhin dabei, dass der Mensch strenggenommen Produkt der Natur ist und, wenn man sagt, der Mensch handle gegen die Natur, sie sich somit selbst bekämpft. Ist die Natur selbst nicht vielmehr ein heilloses Chaos?
Ich würde evidenzbasierte Forschung auf gar keinen Fall mit irgendeiner Abwehrreaktion gleichsetzen. Es hängt auch davon ab, von welcher Art Gleichgewicht man hier spricht. Ein physikalisches Gleichgewicht verändert sich, wenn überhaupt, nur periodisch, aber natürlich nur innerhalb gewisser Grenzen. Der Asteroid, der vor 65 Millionen Jahren auf die Erde fiel und ein Massensterben nach sich zog, kam von außerhalb und kann deshalb nicht dem „Ökosystem Erde“ angelastet werden. Die Entstehung des Menschen war so ein metaphorischer Asteroid: Auf jedem Kontinent, auf dem sich der Mensch ansiedelte, ist erstmal ein Großteil der Säugetiere ausgestorben. Gleichgewicht müssen wir zunächst annehmen, um Evidenzen einordnen zu können.
Im englischsprachigen Raum bezeichnet der Begriff ‚Radical Ecology‘ jene, die behaupten, dass es für eine klimaneutrale Welt vor allem einen Wandel der Werte brauche als vielmehr einen Wandel politisch-ökonomischer Verhältnisse. Sollten wir klimafreundliches Handeln in das Portfolio politisch korrekter Handlungsweisen aufnehmen oder vielmehr jene 100 Konzerne stark regulieren, die für 71% der Treibhausgase seit 1988 verantwortlich sind?
Im Endeffekt muss man gucken, wie man ans Ziel kommt. Das Ziel heißt Treibhausgasneutralität. Emissionen sollten nicht ein Maß übersteigen, bei dem eine Erhitzung der Atmosphäre droht. Wir müssen feststellen, dass meistens zuerst ein Wertewandel in der Gesellschaft stattfindet und darauf ein politischer Wandel folgt. Der Wertewandel passiert jetzt schon vor allem in den reichen westlichen Ländern, wobei man sagen muss, dass das Problembewusstsein in Ländern, die stärker von der Klimaerwärmung betroffen sind, größer ist. Es ist dann aber die Aufgabe der Politik, diesen Wertewandel in konkrete Maßnahmen zu übersetzen, was noch sehr zu wünschen übriglässt.
Man konnte eigentlich schon in den 1970er und 80er Jahren einen solchen Wertewandel beobachten – beispielsweise zeigen das der Bericht des ‚Club of Romes‘ von 1972 mit dem Titel Die Grenzen des Wachstums und die Gründung der Grünen. Die Stimmung in den 70ern hat dazu geführt, dass 1989 fast ein international verbindliches Abkommen beschlossen worden wäre. Warum ist es damals gescheitert und warum sollte es heute gelingen?
Ich bin zwar kein Experte bezüglich dieser historischen Fragen, aber damals musste überhaupt erstmal ein Bewusstsein dafür etabliert werden, dass wir Menschen Teil der Natur sind. Das Problembewusstsein wurde damals durch die Themen Waldsterben und saurer Regen getriggert. Konkrete politische Maßnahmen waren dann die Einsetzung von Abgasfilter, Reduzierung von Schwefelwasserstoff-Emissionen und später beim Ozon-Loch das Verbot von Flour-Chlor-Kohlenwasserstoff. Ich glaube, das waren einfache Probleme, die relativ leicht zu lösen waren im Verhältnis dazu, was uns nun mit der Klimakrise droht. Einmal gelöst, war die Aufmerksamkeit für dieses Thema wieder weg. Die Klimakonferenz in Rio de Janeiro 1992 versuchte eine solche globale Lösungsstrategie zu entwickeln, worauf dann aber massive Lobby-Interessen Studien produzierten, die einen solchen politischen Wandel verhindern sollten. Lobby-Interessen gibt es natürlich auch heute noch. Aber was es heute auch gibt, sind massentaugliche erneuerbare Energien und vielerorts Eingeständnisse von großen Unternehmen, dass ihr Wirtschaftsmodell eine zeitliche Grenze hat.
…wobei das vor allem westliche Unternehmen sind, die seit einigen Jahren Green-washing betreiben. Was ist denn aber zum Beispiel mit den BRICS-Staaten? Musst du da nicht einen Optimismus voraussetzen, dass der Westen den Rest der Welt überzeugen könnte?
Bei den Schwellenländern wie Brasilien und Russland muss man natürlich über individuelle Amtsperioden eines Bolsonaro oder Putin hinausdenken. Das wesentliche Argument ist aber, dass die westlichen Staaten in den letzten Jahrhunderten die Hauptemittenten waren. Das wird sich in Zukunft wahrscheinlich gen Osten verschieben, aber da wird es Aufgabe der westlichen Staaten sein, dafür zu sorgen, dass alle anderen Staaten die Möglichkeit bekommen, diese Phase der fossilen Wirtschaft zu überspringen und sofort in eine klimaneutrale Wirtschaft übergehen zu können. China ist das Land, das pro Jahr am meisten erneuerbare Energien ausbaut, zum Beispiel 2021 mit 55 Gigawatt allein durch Photovoltaik. Das muss man sich mal überlegen – das ist fast so viel wie Deutschland insgesamt an Erneuerbaren installiert hat. Nächstes Jahr will China auf über 100 Gigawatt kommen. Mein Eindruck ist, dass es in der chinesischen Regierung ein größeres Problembewusstsein dafür gibt. Bei Russland ist das nochmal eine andere Geschichte, weil ihre Wirtschaft fast gänzlich auf der Ausbeutung fossiler Ressourcen basiert. Bei den anderen zwei BRICS-Staaten, Südafrika und Indien, ist es dasselbe Dilemma: Sie sind historisch nicht im selben Maße für den Klimawandel verantwortlich wie wir, dennoch muss ihr Eintreten ins fossile Zeitalter verhindert werden.
Damit der Westen den globalen Süden aber zu überzeugen vermag, muss ja zuerst im Westen selbst etwas Überzeugendes passieren. Wenn wir auf den deutschen Diskurs schauen, dann stehen sich zwei Extreme gegenüber: Einerseits Klimagerechtigkeitsgruppen wie ‚Extinction Rebellion‘ oder ‚Last Generation‘, die zwar immer mal wieder durch radikal erscheinende Aktionen auffallen, andererseits der unhintergehbare Konsens in der Naturwissenschaft, der eine recht nüchterne Kommunikationsstrategie fährt. Was heißt das für die Klimagerechtigkeitsbewegung insgesamt? Ein Großteil der Bevölkerung lässt sich von wissenschaftlichen Fakten nicht beeindrucken und ohne das richtige Framing werden Protestformen wie beispielsweise ziviler Ungehorsam als illegitim abgestempelt – wie aus diesem Dilemma herausfinden?
Wenn ich es mal versuche zu umreißen: Die Wissenschaft liefert ja zunächst eine Problembeschreibung. Und diese Problembeschreibung ist genauso komplex wie die Lösung des Problems oder die Hinführung zur Lösung. Jetzt ist es so, dass Menschen nicht gerne vor Problemfeldern stehen, die sie nicht überblicken können. Einige verfallen dann in die am Anfang genannte fetischistische Verleugnung, und andere verfallen in Panik und versuchen dann mit, nun ja, Harakiri-Aktionen, einen Verhaltenswandel zu erzwingen. Und das geht einfach nicht, zumal Extinction Rebellion auch keine Massenbewegung ist.
Aber das genau ist mein Punkt: Wie erschafft man eine Kommunikationsstrategie, ein Framing, manche sagen auch nur ‚Erzählung‘, welche Massen zu bewegen vermag?
Da komme ich jetzt zu einem Mittelweg: Das ist der Weg, anzuerkennen, dass man es alleine nicht hinbekommt. Die Lösung muss kollektiv sein, wo jede:r Einzelne ein kleines Zahnrädchen verstellt. Wie gesagt, es gibt Problembeschreibung und -lösung, und diese Arbeitsteilung macht es einfacher. Es gibt eine Lösung! Aber dafür müssen wir uns alle anstrengen. Die formalen Ziele sind ja mit dem Pariser Klimaabkommen gesetzt und jetzt braucht es einen Aufbruch, ohne in Panik zu verfallen. Obwohl diese Panik sehr begründet ist!
Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan formulierte mal folgende Situation: Selbst wenn es stimmt, dass eine Ehefrau ständig ihrem Ehemann fremdgeht, wäre dessen Eifersucht nichtsdestotrotz pathologisch, weil die Eifersucht eine bestimmte Funktion erfüllt, die zum Ergebnis hat, dass er nicht handelt, sondern in passiver Starre verharrt. Und paraphrasiert: Selbst wenn es stimmt, dass uns eine Klimakatastrophe bevorsteht, wäre unsere Panik nichtsdestotrotz pathologisch. Also: Lässt uns Panik nicht vielmehr erstarren?
Panik ist natürlich keine Problemlösungsstrategie, sondern erstmal eine biologische Reaktion, die – ich bleibe dabei – total begründet ist. Es ist ein Weg, um mit dem Bewusstsein der Lage klarzukommen und die Lage bis zu einem gewissen Grad zu verleugnen. Ich würde aber sagen, dass es sogar gut ist, wenn gewisse Leute diese Panik haben, weil das das Problembewusstsein in der Öffentlichkeit erhöht. Aber wenn die gesamte Gesellschaft in Panik verfällt, würde dadurch kollektives Handeln verunmöglicht.
Ich möchte nochmal darauf zurückkommen, wie eine Massenbewegung eigentlich geschaffen werden kann. Wie motiviert man Massen? Diskutiert ihr innerhalb der Partei darüber?
Im gewissen Sinne gibt’s die nötige Erzählung schon. Vielleicht ist das jetzt ein bisschen anmaßend, aber ich glaube, Annalena Baerbock und Robert Habeck verkörpern das ganz gut. Es ist dieses Gefühl, dass es jetzt einen Aufbruch geben muss, dass unsere Wirtschaft nicht so bleiben kann, wie sie bisher gewesen ist. Damit ist aber auch eine große Debatte verbunden: Disruptive Veränderungen sind nun mal nicht nachhaltig. Ich spreche hier über die Frage: Revolution oder Reform? Reform dagegen kann eine größere gesellschaftliche Akzeptanz erreichen. Und Annalena und Robert repräsentieren eben für mich diese allmähliche aber pragmatische Transformation. Ich war jahrelang bei ‚Fridays for Future‘. Dort haben wir sehr lange Diskussionen über ‚Revolution oder Reform?‘ geführt. Für mich war immer klar, dass die eine klare Strategie nicht festlegbar ist. Es braucht die Reformer, die dafür sorgen, dass im politischen System Veränderungen passieren; es braucht aber auch die Revoluzzer, die von außen eine Diskursverschiebung verursachen und die den Reformern das Leben vereinfachen.
Kommen wir zur Gretchenfrage der Moderne: Was ist denn deine eigene politische Vision für die Zukunft? Ein grüner, sozialdemokratischer Kapitalismus? Oder ein ökologischer Sozialismus?
Ich glaube, wir müssen ein bisschen wegkommen von diesen Begriffen. Unter Sozialismus verstehen nun mal die meisten das aus dem 20. Jahrhundert. Es braucht ein neues Modell, das Elemente von beiden mit aufnimmt, was dann eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft ist. Aus meiner Sicht grundlegend dafür ist, dass man eine neue Wohlstandsdefinition vornimmt. In unserem System bedeutet Wohlstand vor allem Geldwohlstand. Das greift aber viel zu kurz. Jegliche Form von sozialer Arbeit fällt nicht darunter, ökologische Faktoren spielen da gar keine Rolle. Das ist ein riesiges Problem, was es notwendig macht, vollkommen neue volkswirtschaftliche Modelle zu entwickeln. Island, Schottland und Neuseeland benutzen ein Modell, das zum Beispiel nicht nur das Bruttoinlandsprodukt zum Maßstab macht. So ein neuer Wohlstandsindikator wird übrigens gerade im Wirtschaftsministerium unter Robert Habeck entwickelt. Zentral ist halt, dass jede Wirtschaftsform, die wir uns ausdenken, mittelfristig klimaneutral sein muss. Und das könnte ja auch eine massive Verbesserung des Lebensstandards der Menschen bedeuten! Denken wir nur daran, dass die Arbeitszeit bis in die 1960er Jahre hinein stetig gesunken ist, seitdem aber nicht mehr. Warum nicht? Das könnte man verändern im Zuge einer klimaneutralen Transformation.
…eine Diskussion, die bereits in den 1990ern geführt wurde, leider nur mit geringem Erfolg.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Dennis Pieter.
Justus Heuer ist Masterstudent der Physik an der FSU Jena. Seit 2018 engagiert er sich intensiv für verschiedene Institutionen wie Fridays for Future Jena und Thüringen, den Thüringer Klimarat, der das Umweltministerium berät, und ist einer der Gründer des Jenaer Runden Tischs für Klima und Umwelt. Für B90/Die Grünen Thüringen ist Justus Heuer seit 2020 im Landesvorstand und wurde kürzlich für dieses Amt wiedergewählt. Er wurde 2021 als Bundestagskandidat aufgestellt.
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