60 Jahre lang durfte der Reigen nicht aufgeführt werden, denn die Unruhen rund um die Beischlaf-Komödie wurden blutig und zogen vor Gericht. Warum Autor Arthur Schnitzler sein bekanntestes Werk verbieten ließ.
von Ella
Österreich, November 1896. Ein Stück darüber, was Jahrhunderte lang totgeschwiegen wurde, aber jeden interessiert. Das war der Einfall des Arztes und Schriftstellers Arthur Schnitzler, und ihm ist von Beginn an klar: Das ist zu riskant, das kann man nicht veröffentlichen. Ursprünglich möchte er es Liebesreigen nennen, aber Liebe… nein, allenfalls die körperliche Liebe wird hier behandelt. Zehn Charaktere treten in zehn Szenen auf, jeweils zu zweit, verführen einander und in der nächsten Szene wird eine der Figuren ausgetauscht. So hat der Soldat mit der Dirne ein Stelldichein, die dann von dem Stubenmädchen abgelöst wird, welche wiederum vom jungen Herrn verführt wird. So geht es weiter über die junge Frau, ihren Ehegatten, das „süße Mädel“, den Dichter und die Schauspielerin, zum Grafen, der schließlich mit der Dirne den Reigen schließt. In einem Brief beschreibt Schnitzler es als „eine Szenenreihe, die vollkommen undruckbar ist, literarisch auch nicht viel heißt, aber nach ein paar hundert Jahren ausgegraben, einen Teil unserer Kultur eigentümlich beleuchten würde.“ Lediglich 200 Kopien ließ er anfertigen, um sie an Freunde zu verteilen, doch die Nachfrage erwies sich als hoch. Schnitzlers deutscher Stammverlag wollte aus Angst vor Zensur und rechtlichen Konsequenzen das Werk nicht veröffentlichen (eine berechtigte Sorge, wie sich herausstellte), so erschien es in einem Wiener Verlag. Der Tabubruch verkaufte sich: über 100.000 Kopien bis zu Schnitzlers Tod im Jahr 1931. Trotz des Erfolgs lehnte er jahrelang Anfragen für das Aufführungsrecht ab.
Am 23. Dezember 1920 wurde das Stück schließlich im Kleinen Schauspielhaus Berlin uraufgeführt, obwohl noch kurz vor Beginn der Vorstellung ein gerichtliches Verbot ausgesprochen wurde. Für Kunstfreiheit nahm die Theaterdirektion die angedrohten Haftstrafen in Kauf und wurde dafür vor das Berliner Landgericht berufen. Doch was im Angesicht der strengen Moralauffassung überraschen mag: Die Richter sahen sich das Schauspiel selbst an und befanden es für „sittlich“. Die einstweilige Verfügung wurde aufgehoben. Weitere Aufführungen in Deutschland und in Wien wurden in der Presse überwiegend gelobt, aber etwas folgte dem Schauspiel wie ein Schatten: Antisemitische Hetze, oft verkleidet als Sorge um die Sittlichkeit der (vor allem weiblichen) Jugend. Ein Schwall Hass brach dem jüdischen „Schwein“ Schnitzler entgegen, sowie den jüdischen Zuschauern. Es gab erneute Versuche, das Stück zu verbieten. Jugendliche sabotierten Vorstellungen mit Stinkbomben. Im Volkssturm wurden die Attacken gelobt, bei denen Zuschauer zusammengeschlagen und von den Rängen aus mit Stühlen und Glas beworfen wurden. Im Chaos wurde sogar ein Saal mithilfe von Löschschläuchen geflutet, um den wütenden Mob abzuwehren. Der endlosen Skandale und Attacken überdrüssig, untersagte Schnitzler alle weiteren Aufführungen. Teilweise wurde dieses Verbot zwar durch Hörspielaufnahmen und fremdsprachige Adaptionen umgangen, doch in seiner originalen Form aufgeführt werden durfte es erst 1982 wieder, ganze 60 Jahre später. Nicht Prüderie, sondern Hass und Gewalt hatten den Autor gezwungen sein eigenes Werk aus der Öffentlichkeit zu bannen, und das nicht nur seinen Lebtag lang, sondern noch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod.
Ist das Stück nun nur für „Schweine, Schieber und Dirnen“, wie in rechtsextremen Publikationen gehetzt wurde, oder doch ein „Meisterwerk“, wie es ein geneigter Kritiker bezeichnete? Die Zurschaustellung von Untreue, unehelichem Sex und einer Prostituierten, sowie das offene Thematisieren von Sex stellten zwar einen Tabubruch dar, aber der Reigen ist bei Weitem nicht das erste Werk mit diesen Elementen. Vor Gericht verteidigte sich Schnitzler damit, dass ‚Liebesszenen‘ eine lange Tradition im Theater haben und oft der geschlechtliche Akt durch einen Kuss, eine Umarmung oder den Fall des Vorhangs angedeutet wird. Ähnliches passiert hier: Die zehn intimen Zwiegespräche sind jeweils gespalten in eine Phase der Verführung und des ‚Danach‘, getrennt durch einen Gedankenstrich im Text beziehungsweise die Verdunkelung der Bühne. Warum sein Werk verschrien wird, wenn es sich nicht radikal von anderen, als hochwertiger angesehenen Stücken unterscheidet, meinte Schnitzler, sei unverständlich. Wäre das Bühnenwerk tatsächlich die reinste „Schweinerei“, dann sicher nicht wegen expliziter Szenen, denn man sieht nichts, hört nichts, kein rüdes Wort wird in den Mund genommen, ja, nicht einmal der Geschlechtsakt wird benannt. Danach gehen die Dialoge post-koital nahtlos weiter. Keine Pornographie also, sondern eine Studie des Umgangs mit Sexualität in der Wiener Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts. Von der Prostituierten über Bürgertum und Bohème bis zum Aristokraten: Der Reigen tanzt durch alle Gesellschaftsschichten.
Man bekommt das Gefühl, dass die Männer die Jugend und die stets niedrigere soziale Stellung und Bildung ihrer Partnerinnen ausnutzen, sie überreden, überfallen und dann fallen lassen. Manchmal verraten die Damen aber durch ihr Verhalten, dass die Passivität und Naivität nur gespielt sind, und nutzen ihre Partner aus. Das „süße Mädel“ hat einen gesunden Appetit, und lässt es sich nicht nehmen, ihr üppiges, spendiertes Mahl zu beenden, bevor sie sich auf Liebeleien einlässt. Auch sagt sie zu Theaterkarten nicht nein. Sie weiß, dass sie etwas flunkern muss, was vergangene Beziehungen angeht, was aber nur fair erscheint, da die Männer sie oft herablassend und verkindlichend behandeln (oder sie sexualisieren gar ihre Erfahrenheit). Auch hat sie Durchblick: Sie weiß, dass viele ihr nachlaufen, sie entlarvt den Ehemann als verheiratet und lässt sich von ihm auch kein schlechtes Gewissen einreden, weil sie ihn zum Ehebruch verführt habe. Eine wahrlich verdrehte Anschuldigung, wo er doch in vollen Bewusstsein seinen Eheschwur betrogen hat, während das süße Mädel dies zuvor nicht wusste. Ihre kecke Antwort: „Ah was, Deine Frau macht’s sicher nicht anders als Du“, beleidigt den Ehemann, der seine Frau als ein reines, jungfräuliches Wesen und züchtige Mutter sehen will. Dabei treibt er sie genau mit dieser Attitüde in die Arme eines anderen. Dass sowohl er als auch seine Frau, die er bewusst vernachlässigt, Ehe brechen, gibt dem Dialog weiteren Biss und Ironie.
Neben dem süßen Mädel haben die Prostituierte und die Schauspielerin die meiste Macht. Sie sind sich ihrer Begehrenswertigkeit und der Meinung der Männer von ihnen bewusst, sowie ihrer sozialen Randstellung, brauchen sich also nicht zu verstellen und können necken und fordern, die Situation kontrollieren. Andere Figuren hingegen spielen Liebe vor oder arbeiten manipulative Skripte ab, oft die gleichen. Der junge Herr ist stolz, in Emma eine „anständige Frau“ zur Liebschaft haben. In der nächsten Szene nennt ihr Ehemann sie ebenfalls so, jedoch in dem Irrglauben, sie sei ihm treu. Der Dichter nennt sowohl das süße Mädel als auch die Schauspielerin „die heilige Einfalt“, was erstere sich gefallen lässt, doch zweitere triezt ihn im Gegenzug unaufhörlich mit abfälligen Kosenamen und nennt ihn dumm. Schließlich verkündet sie doch theatralisch eine so große Liebe zu ihm, dass sie daran stürbe. Dem Grafen hingegen pflichtet sie bei, dass es die Liebe gar nicht gebe. Es erscheint belustigend bis deprimierend ironisch, wenn andere Figuren die Emotionalität und Einzigartigkeit der Beziehung hochspielen, nur um spätestens durch den nächsten Partnerwechsel als Täuschung entpuppt zu werden.
Ebenso suchen sie im Sex oft unbewusst die Liebe, empfinden ihn aber gleichzeitig als Abwertung derselben. Der Graf wünscht sich als romantisches Abenteuer, dass er die Prostituierte nur auf die Augen geküsst hätte. Durch den vorausgegangen Sex ist das Zusammentreffen doch banal geworden. Der Ehegatte versucht durch Entzug körperlicher Nähe und Zuneigung, durch Beschränkung auf ein nur Dutzend kurzer ‚Flitterwochen‘ im Ehebett seiner Ehe Bestand zu geben. Anstatt die Liebe zu erhalten, treibt Distanz und Unbeständigkeit beide in die Armer anderer. Die von vielen Figuren gestellte gretchenhafte Frage: „Sag, hast du mich lieb?“ wird oft nur mit Verweis auf die körperliche Intimität beantwortet, nicht mit einem klaren „Ja“. Figuren wollen angenommen oder geliebt werden, doch verlieren sie oder ihre Partner das Interesse und so suchen sich den oder die Nächste. Es herrscht ein Gefühl der steten Unbefriedigung.
Schnitzlers Milieu zur vorletzten Jahrhundertwende ist geprägt vom Sterben bürgerlicher Ideale, Ernüchterung romantischer Vorstellungen und dem Einzug von Nihilismus. Die Konzepte von Liebe, Sex, Zuneigung, Beständigkeit sind auseinandergedriftet, voneinander isoliert. Sie haben keine klaren Definitionen. Skripte der Liebessprache sind veraltet und wirken unglaubwürdig. Nicht nur die Schauspieler im Stück spielen Rollen, sondern auch die Figuren selbst. Trotz befreiendem Gelächter lässt das Stück einen doch ernüchtert zurück, vielleicht weil wir darin unsere Ängste gespiegelt sehen: Zwar ist unsere gegenwärtige Gesellschaft so frei, dass Sex nicht mehr in den Käfig der Ehe und Frauen nicht mehr in den Käfig performativer Asexualität gezwungen werden, dafür wird uns unsere Austauschbarkeit in der Ära digitaler Partnerfindung und „Hook-up Culture“ immer brutaler vor Augen geführt. Diese Austauschbarkeit wird dadurch zum Problem, weil wir noch ebenso wie zu Schnitzlers Zeiten der Romantik nachhängen. Die Vorstellung, dass Sex höchster Ausdruck der Verbundenheit mit einer für uns bestimmten Person sein soll, scheitert allzu oft an der Realität und lässt uns enttäuscht und einsam zurück. Noch immer wollen wir fragen: „Hast du mich lieb?“, – denn Trieberfüllung bringt keine Gewissheit darüber – und sind meist nicht bereit, die ehrliche Antwort zu hören: Dass die Person vor uns wahrscheinlich nicht lebenslange Liebe, Seelenverwandtschaft und Rausch für uns bereithält. Und so tanzt der Reigen immer weiter, eine Hand trifft eine neue.
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