„Porn is coming home”

Die Amateurpronographie hat längst Eingang in das alltägliche Sexualleben gefunden. Was das über die Sexualität unserer Gesellschaft aussagt, erforscht Dr. Sven Lewandowski. unique hat ihn dazu befragt.

Warum schauen Sie sich Amateurpornos an?

Die Analyse privater Sex-Videos bietet einen Ausweg aus dem Problem, dass die klassische Sexualforschung keinen direkten Zugang zur sexuellen Praxis hat . Sie kann sich ja schlecht in die Schlafzimmer der Leute setzen, um zuzuschauen. Dies das wäre ein reaktives Verfahren, da die Anwesenheit von Forscher*innen das, was passiert, deutlich verändern würde. Also führt man üblicherweise Interviews. Nur bieten Interviews keinen Zugang zu körperlicher Praxis. Und genau darum geht es uns. Unsere Idee ist, dass man private Sexualität beobachten kann, wenn man sich selbstgedrehte Videos anschaut. Wir analysieren also echte Amateurpornographie und suchen für die Studie Leute, die auch ohne Kamera miteinander Sex haben und sich manchmal selbst filmen, egal, ob sie ihre Videos hochladen oder unveröffentlicht lassen.

Das unterscheidet also die Amateurpornografie von professioneller Pornografie, dass private Leute sich ohne finanzielles Interesse filmen?

Das ist das eine. Hinzu kommt, dass sie sich selbst filmen. Natürlich lautet ein typischer Einwand unsere Forschungsmethode, dass die Leute Pornos nachspielen. Allerdings funktioniert dies nicht. Wir gehen vielmehr davon aus, dass Menschen, die regelmäßig miteinander sexuell interagieren, einen gemeinsamen sexuellen Habitus ausbilden. Dieser Habitus reproduziert sich – wie andere Habitus auch – gleichsam hinter dem Rücken der Akteur*innen. Selbst wenn die Akteur*innen also versuchen, der Kamera etwas vorzuspielen, klappt das nicht besonders lange. Stattdessen rutschen sie in ihre klassischen Muster. Deswegen lässt sich an den privaten Videos nachvollziehen, was und wie sie es auch sonst machen. Da sich sexuelle Praxis nicht über Interviews erfragen lässt, müssen wir sie beobachten. Und da private Videos sexuelle Praxis dokumentieren, lässt sich diese an ihnen erforschen.

Das heißt, es geht nicht darum, Amateurpornos zu erforschen, sondern Sexualität anhand von Amateurpornos?

Sowohl als auch. Uns interessiert die sexuelle Lebenswelt der Leute ebenso wie die Entstehung der Videos. In welchem Kontext entstehen sie? Wie sind sie gemacht? Die Videos sind für uns nicht nur ein Dokument der Interaktion, sondern sie sind selbst auch Produkt sozialer wie sexueller Praxen. Wie kommen die Leute dazu sich zu filmen? Wie kommen Sie auf die Idee es hochzuladen? Was passiert dann, wenn sie Videos veröffentlichen? Ein Paar beispielsweise hat angefangen, sich zu filmen, um seine Unzufriedenheit mit seinen Körpern zu beheben. Sie haben positives Feedback bekommen, wodurch es ihnen möglich wurde, ihre Körper positiver zu sehen und an körperlichem Selbstbewusstsein zu gewinnen.

Zeugt das auch von einer Normalisierung der Pornografie? Dass Sie das überhaupt erforschen, drückt das nicht aus, dass Pornografie Eingang gefunden hat in den sexuellen Alltag der Menschen?

Definitiv! Ein britischer Kollege hat das mal schön ausgedrückt: „Porn is coming home“. Pornografie ist ein populäres Medium und Bestandteil des sexuellen Alltags geworden. Es gibt zudem eine Verschränkung von privater Sexualität und pornografischer Sexualität. Alle Menschen navigieren heutzutage zwischen ihrem eigenen Begehren und medialen sexuellen Welten. Das trifft für Menschen, die sich beim Sex filmen in besonderer Weise zu. Sie filmen ihre Videos ja nicht, um Pornos zu imitieren, sondern sie wollen sich in ihren Videos wiedererkennen: Die Videos sollen nicht irgendwelche, sondern ihre Videos sein und ihre Sexualität zeigen.

Lange wurde von der Gefährlichkeit von Pornografie gesprochen. Heute ist das scheinbar so normalisiert, dass das nicht mehr aktuell ist?

Die angeblichen Gefahren von Pornografie werden grandios überschätzt. Die Vorstellung, die Menschen schauen Pornografie und verwahrlosen dadurch sexuell, ist ein medialer Diskurs, für den es keine empirische Basis gibt. Zu fragen ist eher, warum diese Diskurse, dass Pornografie alles verdirbt, so anschlussfähig sind. Die Debatten gab es Ende des 19. Jahrhunderts schonmal. Ebenso der Skandal um Beate Uhse in den 1950er Jahren. Die Diskurse wiederholen sich und der Untergang des Abendlandes ist immer noch nicht eingetreten. Das Entscheidende ist: Leute werden von Pornografie nicht einfach überschwemmt, sondern suchen sich Pornografie aus, also nicht ‚unwanted exposure‘, sondern ‚wanted exposure‘. Ohnehin entsteht Pornografie eigentlich erst in der Interaktion mit dem Material und funktioniert nur, wenn man sich davon auch erregen lassen möchte.

Was kann Pornografie denn über eine Gesellschaft aussagen?

Pornografie bildet zunächst einmal sexuelle Fantasien ab: Fantasien sexueller Art ebenso wie Fantasien über Sexualität. Pornografie spiegelt die Sexualität der heutigen Gesellschaft insofern wider, als sie die vielfältigen Möglichkeiten von Sexualität zeigt. Auf der anderen Seite gibt es eine Orientierung am Lustprinzip, die sich in allgemeiner Sexualität im Wesentlichen durchgesetzt hat. Sexualität, die keine Lust bereitet, hat irgendwann ein Problem. Das zeigt sich daran, dass die Beratungspraxen von Psycholog*innen voll sind mit Leuten, die unter sexueller Lustlosigkeit leiden. Pornografie spielt immer auch mit Grenzen, Tabus und Verboten. Das, was die Gesellschaft als Phantasmen umtreibt, taucht auch in der Pornografie auf. Hinzu kommt eine innermedial bedinge Steigerungslogik: mehr, extremer, was auch immer. Eine pornografische Produktion muss die andere immer überbieten. Entweder in Richtung einer Überbietung oder in Richtung Authentizität. Daher die Nachfrage nach „Amateurpornographie“. Anhand von Pornografie zeigt sich zudem, was gesellschaftlich lange verdrängt wurde – etwa real existierende sexuelle Vielfalt, die in Amateurpornografie sichtbar wird. Manche Akteur*innen nutzen die Möglichkeiten neuer Medien zur Darstellung ihres sexuellen Begehrens. Beispielweise sind sadomasochistische Videos wesentlich stärker sichtbar geworden. Problematisch wird es natürlich, wenn die Leute sich solche Videos anschauen und nicht verstehen, dass es sich um konsensuelle Inszenierungen und nicht um rohe Gewalt handelt.

Hat Sexualität denn überhaupt noch etwas mit einem romantischen Liebesideal zu tun?

Zumindest sind die meisten romantischen Liebesbeziehungen auch sexuelle Beziehungen. Umgekehrt traf das noch nie zu. Für unser Forschungsprojekt über Amateurpornographie haben wir Leute in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen befragt – von Affären bis hin zu langjährigen Ehen. In den meisten Fällen ist das Videodrehen eingebettet in feste Beziehungen. Prinzipiell würde ich aber sagen: Leute brauchen heute nicht mehr die Ausrede, dass es die große Liebe sein muss, um eine sexuelle Beziehung zu führen. Liebe und Sexualität haben den größten Teil der Geschichte nichts miteinander zu tun gehabt, sondern wurden erst im Zuge der Romantik miteinander verbunden. Aktuell findet eine Entkoppelung statt, bei der die romantische Liebe das Monopol auf legitime Sexualität verliert.

Haben Sie bereits Ergebnisse aus Ihrer Forschung

Die Kommbination von Videoanalyse und narrativen Interviews hat uns tiefe und auch unerwartete Einblicke in die lebensweltliche Einbettung amateurpornographischen Praxen ermöglicht. Interessant ist wie sich an Pannen – beispielsweise, wenn jemand rausrutscht oder zu fest zubeißt – mikrosoziologische Interaktionsordnungen analysieren lassen. Ebenso interessant ist die Bereinigung von Pannen, wobei möglichst vermieden wird, diese zu verbalisieren. Stattdessen wird versucht, die Interaktion irgendwie weiterzuführen und sie nicht durch Verbalisierung zu unterbrechen. Wir sehen sehr schön, wie die Interaktion sich auf körperlicher Ebene selbst steuert. Die Konsequenz daraus ist, dass alle Theorien sexueller Interaktion, die bei kognitiven Skripten ansetzen, komplett daneben greifen. Denn selbst wenn die Leute ein Skript verabreden, müssen die Körper das immer noch umsetzen. Es entwickelt sich also eine Art körperliches Interaktionssystem, das nicht bewusst operiert und sich über Befragungen nicht untersuchen lässt. Man muss es folglich in Aktion beobachten.

Sind narrative Interviews, nachdem sie die Videos analysiert haben, überhaupt noch notwendig?

Ja, da wir in den Videos nicht ihren Kontext sehen. Die Interviews dienen dazu, die Videos wieder an ihren lebensweltlichen Kontext zurückzubinden. Außerdem erzählen uns die Leute, wie sie die Videos selbst sehen. Beispielsweise gab es ein Video, bei dem wir dachten: „Hui, das sieht aber arg nach Ungleichheit aus.“ Wir haben die Leute dann interviewt und das erste, was sie sagten zur Begrüßung: „Also ich spiel hier unheimlich gerne Rollen“. Nachdem sie uns das erzählten, fanden auch wir Indizien, dass da Rollen gespielt werden. Dieses Spielen von Rollen gehört zur Sexualität dieses Paars. Sie machen das, weil sie das erregend finden. Wenn wir nur die Videos anschauen, würden wir das nicht sehen und vor allem auch nicht wissen, dass sie ihr Rollenspiel reflektieren. Würden wir uns nur auf Interviews oder nur auf Videoanalysen beschränken, würden wir an der Realität vorbeigreifen. Deshalb kombinieren wir beides.

Wir danken für das Gespräch!
Das Interview führte Renke.

Dr. Sven Lewandowski ist Soziologe und arbeitet an der Universität Bielefeld. Er forscht schwerpunktmäßig über Sexualität und leitet aktuell die Studie Die Praxen der Amateurpornographie, welche von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird.


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