unique im Gespräch mit Prof. Dr. Marcel Lepper, dem Direktor des Goethe-und-Schiller-Archivs über Digitalisierung der Briefe Goethes, die Zugänglichkeit der wertvollen Dokumente und die Probleme der Masse an Daten, die bei 5 Millionen Blatt Papier anfallen.
unique: Wie kommt man als Studierender an die Materialen und Bestände im GSA heran?
Prof. Dr. Marcel Lepper: Das ist eine Frage der Zugänglichkeit – nicht nur ein technisches, sondern auch ein politisches Thema. Wir versuchen die Schwellen zu kulturellen Institutionen und auch zur Forschung so abzusenken, dass Studierende zu einem frühen Zeitpunkt andocken können. Rein technisch gesprochen: Es gibt eine informationsreiche Bestandsdatenbank des GSA, in der man recherchieren kann und in der auch Digitalisate angebunden sind. Dann ist der nächste Schritt der Lesesaal, der tatsächlich für jede und jeden offen ist. Aber das ist nicht alles. Das Entscheidende ist tatsächlich, dass wir es schrittweise schaffen, die Archivarbeit als ganz wesentliche Praxis für die historischen Fächer und Literaturwissenschaften in den Modulplänen zu verankern. Dadurch können Studierende schon ganz früh im Studium nicht nur im Rahmen quasi-touristischer Führungen, sondern in aktiven, explorativen Formen involviert werden und dann ganz von selber sehen, wie man an die Materialien herankommt.
Haben Sie schon konkrete Universitäten im Blick, vor allem in der Nähe von Weimar?
Im Vordergrund stehen die großen Universitäten im thüringischen Raum: die FSU Jena, die Bauhaus-Universität hier in Weimar und die Universität Erfurt. Aber auch darüber hinaus die Universität Leipzig und die Humboldt-Universität zu Berlin. Das werden wir schrittweise tun. Aber die Erkundung ist auch wichtig für die Lehrerinnen und Lehrer – man kann nicht nur besser unterrichten, wenn man den Gegenstand näher war, sondern es ist auch wirklich so, dass umgekehrt die Institutionen wahnsinnig davon profitieren, wenn sie mit dem Deutsch- und Geschichtsunterricht im lebendigen Dialog stehen – nicht nur im theoretischen.
Wie planen Sie, die Studierenden noch besser anzusprechen?
Dabei haben wir es ja mit ganz unterschiedlichen Zielgruppen zu tun. Es gibt Unterschiede zwischen Lehramts- und etwas freier gestalteten Bachelor- und Masterstudiengängen, die dann auf Forschung, Öffentlichkeitsarbeit, Verlagswesen und Museumsarbeit hinzielen. Das muss man spezifizieren und für die Beteiligten jeweils etwas anbieten, was sie auch brauchen können. Wir haben gerade in einem Pressebeitrag nochmal deutlich gemacht, dass wir Schülerinnen und Schüler und Studierende nicht unterfordern sollten. Wir sollten, gerade wenn wir über Schwellen nachdenken, besonders die technischen und informationellen Hürden abbauen, denn Studierende sollen es leicht haben, sich hineinzufinden. Gleichzeitig sollten wir überhaupt nicht denken, dass Studierende fertig aufbereitetes Material brauchen, das nicht den Realitäten entspricht. Für Studierende wird es richtig spannend, wenn sie die tatsächlichen Zusammenhänge vor Ort mitkriegen – sie wollen ernst genommen werden.
Welche Projekte laufen derzeit im GSA?
Wir haben derzeit große Goethe-Projekte laufen. Das betrifft vor allem Goethes Lebenszeugnisse. Er hat sich selbst minuziös dokumentiert und dokumentiert lassen – das ist einzigartig für die Zeit um 1800. Man hat dort eine Datendichte, die es für kaum eine andere Person und auch lange danach für niemanden gegeben hat. Eine solche Datendichte haben wir heute erst durch soziale Netzwerke: eine Art der Selbst- und Fremddokumentation, von Tag zu Tag, Stunde zu Stunde – das ist einzigartig. Diese Ausnahmepersönlichkeit Goethe ist dabei nicht nur literaturwissenschaftlich interessant, sondern auch kulturhistorisch. Darüber hinaus gibt es viele andere Projekte: ein riesiges Nietzsche-Projekt, das Projekt zum Insel-Verlag, das sehr eindrucksvoll dokumentiert, wie Archive miteinander arbeiten können. Der neuere Teil des Verlags liegt in Marbach, der ältere historische Teil des Insel-Verlags liegt hier im GSA. Darüber hinaus gibt es durch die Geschichte des Verlags komplizierte Verschränkungen – diese Daten kann man wunderschön zusammenführen, wenn die Archive die Karten zusammenlegen. Das ist ein Projekt der DFG, der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Perspektive des GSA im Projektbereich wird sein, die Editionsprojekte und vor allem auch den digitalen Bereich deutlich auszubauen – das heißt, das Archiv wird wachsen.
Sie haben gerade schon gesagt, dass das Archiv durch den Ausbau der Projekte wachsen wird. Können Sie da schon konkretere Ziele benennen? Worauf könnten sich Studierende einstellen, wenn sie bei diesen Projekten vielleicht auch mitarbeiten möchten?
Ich nenne Ihnen dazu drei Schwerpunkte. Erstens: 1800 – datenintensiv. Datenintensität ist eigentlich der Traum des 19. Jahrhunderts. Die ganze Gründungsgeschichte des Archives geht darauf zurück, dass man Daten in hoher Intensität gesammelt und übereinandergelegt hat. Die ganze Weimarer Ausgabe, publiziert zwischen 1887 und 1919, ist nichts anderes als die Erzeugung von Datenintensität, in diesem Fall zu Goethe. 1800 – datenintensiv: Das lässt sich jetzt erst in vollem Umfang für den alten Traum aus dem 19. Jahrhundert realisieren, aufgrund technischer Möglichkeiten. Das heißt, da geht es nicht mehr nur um Goethe, sondern auch um andere wichtige Figuren des späten 18., frühen 19. Jahrhunderts. Natürlich um Schiller, aber auch um Herder und Wieland. Die Verlage, Körperschaften, große Institutionen und deren Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – das liegt alles hier. Die Goethe-Fokussierung des GSA wird bei der Gelegenheit zugunsten einer Fokussierung auf die Zeit um 1800 ausgeweitet.
Der zweite Schwerpunkt konzentriert sich auf das 20. Jahrhundert und auf die Deutungsgeschichten. Dieses Haus steht auch für eine problematische Geschichte – unter den Nazis, aber dann auch in der DDR. Das muss kritisch aufgearbeitet werden, und dazu liegen hier die Akten. Das ist für Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker ein absolut spannendes und erstaunlich wenig beackertes Feld, ideal für konkrete Projekte von Studierenden. Das betrifft auch den ganzen Bereich der Provenienzforschung, wo wir ganz starke Akzente setzen wollen: also die Frage, wie Gegenstände in die Sammlungen kommen, welche Wege, rechtmäßige und unrechtmäßige, sie bis dahin zurückgelegt haben.
Der dritte Schwerpunkt ist der Bereich der Digital Humanities. Digitalisierung heißt ja noch nicht digitale Geisteswissenschaften, sondern erstmal nur Infrastruktur. Man benutzt dann Scans und kann zuhause arbeiten, und man muss nicht für jede einzelne Handschrift in den Lesesaal gehen. Das wird einem die Besichtigung des Originals, die sogenannte Autopsie, nicht abnehmen. Aber Digital Humanities meint mehr – es geht um eine veränderte Form, in unseren Fächern zu arbeiten. Das heißt neben qualitativen Verfahren auch quantitative einzusetzen, Netzwerkanalysen zu machen, mit Metadatenstrukturen zu arbeiten und sie fruchtbar zu machen für wissenschaftliche Fragen. Wenn wir an die großen Editionen mit großen Textkorpora denken und mit diesen analytisch arbeiten, wollen wir für unsere Fächer Schnittstellen bauen. Da kommen gerade zwei Bewegungen aufeinander zu.
Noch einmal zum Thema Digital Humanities und Digitalisierung im Allgemeinen. Es gibt viele Stimmen, die die Frage stellen, warum die Digitalisierung so lange dauert. Was sind da die Probleme, vor die man gestellt wird?
Im Bereich Digitalisierung haben wir eine große Vermittlungsaufgabe. Wir trennen zwischen einer digitalen Infrastruktur, die tatsächlich vollständige digitale Editionen bereitstellen kann – diese müssen sich Wort für Wort, Satz für Satz, Kommentar für Kommentar vorarbeiten – und dem schlichten Digitalisieren im Sinne des Abfotografierens auf hohem technischen Niveau. Das erste dauert tatsächlich lang – Editionen brauchen Zeit, sie sind Langzeitunternehmen, die teilweise mit großen Wissenschaftsakademien durchgeführt werden, wie das Propyläen-Projekt. Die Digitalisierung im engeren Sinne, das heißt tatsächlich das Abfotografieren von Überlieferung, geht deutlich zügiger, wird häufig aber mit dem ersten verwechselt. Trotzdem braucht auch das erstaunlich viel Zeit, weil mit schmutzigen Digitalisaten ohne Metadaten-Anbindung niemandem gedient ist. Soll heißen: Jede und jeder kennt das von eigenen Fotos, die wir mit den Smartphones machen. Eine große Masse von ‚Knipserfotos‘ ohne Struktur sind ab einer bestimmten Menge unbenutzbar. Selbst wenn man Algorithmen darüber laufen lässt, die einem Wiedererkennungseffekte ermöglichen. Das Entscheidende ist, es von vorherein so tun, dass die großen Bildermengen strukturiert benutzbar sind. Die Kunst besteht darin, den Digitalisierungsvorgang mit einem Anbindungsvorgang zu verbinden, also die Digitalisate dann präzise und punktgenau mit den Datenbankstrukturen zu verknüpfen, damit sie später an der richtigen Stelle abrufbar sind. Qualitätssicherung spielt in der Digitalisierung eine ganz große Rolle – dort passieren auch oft aus technischen Gründen Fehler. Das ist eine intensive Prüfungs- und Kleinarbeit, das so zu tun, dass man nicht in fünf Jahren wieder anfangen muss. Und schließlich digitale Langzeitarchivierung: Jeder weiß, was ein Formatwandel im digitalen Bereich auch für die individuelle Datenhaltung bedeutet. Was wir heute noch in brauchbaren Datenformaten haben, muss in zehn Jahren theoretisch nicht mehr benutzbar sein, es kann völlig obsolet sein. Deshalb ist es eine Riesenaufgabe – die Langzeitarchivierung im Sinne einer ständigen Transformation der Daten in aktuelle, einsatzfähige Formate. Wir haben es hier nicht mit Mikrofilmen zu tun, die man in einen Bergstollen sperren und für 100 Jahre liegenlassen kann, sondern mit digitalen Materialen, welche immer in technische Infrastrukturen eingebunden sind.
Sie haben eben gesagt, es sei die Masse an Daten, die das ganze schwierig macht. Wie viel ist aktuell im GSA gelagert, wie groß ist der Bestand?
Die aktuellen Zählungen geben 5 Millionen Blatt an. Durch die Akten, die ja auch hier liegen, also nicht nur Handschriften, gehen wir von deutlich höheren Zahlen aus. Das ist eine Sache der kommenden Jahre, das genauer zu ermitteln, aber bevor wir dort Blatt für Blatt zählen, wollen wir erstmal mit einem höheren Tempo als bislang in die Praxis einsteigen. Bislang liegen von 5 Millionen Blatt ca. 300.000 Digitalisate vor. 5 Millionen Blatt entsprechen einem Zielwert von 10 Millionen Digitalisaten – eine Handschrift muss man schließlich immer mindestens von vorne und hinten abbilden. Manchmal gibt es gefaltete Strukturen, die mehr Digitalisate erfordern. Da merken Sie schon, dass da eine große Aufgabe vor uns liegt – das geht nur mit Prioritätensetzung und Drittmitteln, also mit zusätzlichen Projekten, um dort Tempo reinzubringen. Bis 2025 wollen wir den Stand von 300.000 Digitalisaten verdoppeln, da sind wir sehr ambitioniert. Wichtig ist aber auch, Institutionen wie das GSA nicht mit technischen Offensiven zu überfordern, sondern die Öffentlichkeit mit einzubeziehen. Das bloße „herunterdigitalisieren“ als mechanischer Vorgang hilft gar nichts, wenn es nicht vermittelt ist, nicht in begleitende Programme eingebunden, fruchtbar oder nutzbar ist. Insofern ist ein mittleres Tempo wirklich sinnvoll. Das sind Langzeitaufgaben, die diese Archive erledigen können – das ist auch das Schöne: diese Arbeit ist nicht in den nächsten 5 Jahren komplett getan. Das sind riesige Berge, die vor uns liegen.
Abschließend dazu eine Frage, die sich wahrscheinlich viele Leserinnen und Leser stellen: Wie werden die dort gelagerten wichtigen Dokumente gesichert – besonders gegen Umwelteinflüsse wie Feuer oder Hochwasser?
Durch die baulichen Maßnahmen im Jahr 2012 ist das GSA in einem Zustand wie ganz wenige Institutionen dieser Art. Bei der Auswahl des Bauplatzes im späten 19. Jahrhundert hat man eine kluge Entscheidung getroffen: Das Archiv liegt hoch über dem Fluss, es liegt sicher in den Hang hineingebaut, das Gebäude hat unglaublich dicke Mauern, und es gibt eine Löschanlange nach aktuellsten Kriterien. Das ist eine Inertgas-Löschalage für den Brandfall, so dass nicht mit Wasser gelöscht wird. Das ist auf einem hohen technologischen Stand, der trotzdem ständig nachgebessert werden muss. Aktuell stehen wir wieder vor Prüfdurchgängen. Der wichtigste Punkt scheint mir die Öffnung der Institution in Verbindung mit der Sicherung zu sein. Das heißt, die Öffnung für das Publikum mit dem langfristigen Schutz des Materials zu verbinden.
Gibt es die Möglichkeit, das GSA und seine Bestände zu besichtigen?
Ja, in begleiteten Seminaren – und in den Ausstellungen, die im Rahmen der allgemeinen Öffnungzeiten allen zugänglich sind. Dort zeigen wir, das ist etwas Besonderes, Originale. Im Ausstellungsbereich wollen wir in Zukunft auch stärker intermedial denken, das heißt nicht allein Handschriften zeigen, sondern das auch begleiten mit Medienstationen, Objekten aus anderen Sammlungen. Das Zeigen von Originalen ist unverzichtbar, es lockt viele Besucherinnen und Besucher her. Gerade im digitalen Zeitalter wollen wir gern das wirkliche, echte, das einzigartige Objekt sehen – da werden wir noch stärker nachdenken, experimentelle Ausstellungen auch mit Studierenden konzipieren. Wir wollen nicht nur schöne Schätze oder neu erworbene Dinge präsentieren, sondern sehr viel stärker Themen und Fragen adressieren, die die Öffentlichkeit, die Universitäten und deren Studierende interessieren.
Wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Hanna.
Prof. Dr. Marcel Lepper ist Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs, Klassik Stiftung Weimar, und lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Stuttgart. Er hat Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert Forschungsaufenthalte führten ihn nach Madison und Canterbury, Princeton und Cambridge. Zuletzt leitete er das Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin.
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