Wege aus der Hass-Spirale

In seinem Buch "Der Riss" beschäftigt sich Michael Kraske intensiv mit rechten Strömungen in Ostdeutschland. (Coverausschnitt)

Seit Jahren zerstören Alltagsrassismus und rechte Gewalt das respektvolle Zusammenleben in Ostdeutschland. Es braucht dringend einen politischen und gesellschaftlichen Masterplan, der Betroffene rechter Gewalt schützt, zivilgesellschaftliche Initiativen absichert und selbstbewusst für eine Gesellschaft kämpft, der Teilhabe und Respekt wichtiger sind als Herkunft und Hautfarbe.

von Michael Kraske

Es sollte ein Appell sein, auch ein Hilferuf. Im September vergangenen Jahres luden die ostdeutschen Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt die Presse ins Theater der jungen Welt nach Leipzig ein. Die Sozialarbeiter wollten von ihren Erlebnissen berichten, wenn sie denjenigen beistehen, die aufgrund ihrer Hautfarbe oder Religion rassistisch beleidigt, angegriffen oder verletzt werden. Theresa Lauß arbeitet beim Verein ezra in Thüringen. Die Sozialarbeiterin schilderte einen Vorfall, der sich in Nordthüringen ereignet habe: Demnach wurde ein junger Mann in einem Club aus einem rassistischen Motiv heraus brutal angegriffen; der Täter brach ihm den Kiefer. Zwar sei die Polizei gekommen, aber der Verletzte musste zusammen mit dem Täter im Einsatzwagen seine Anzeige stellen und dort auch seine Adresse preisgeben, die damit also ebenfalls der Täter kannte. Kein Einzelfall, so die Sozialarbeiterin. Es komme immer wieder vor, dass Polizeibeamte auf dem Land Opfern rechter und rassistischer Gewalt sogar davon abraten, eine Straftat anzuzeigen oder sich sogar weigern, eine Anzeige überhaupt aufzunehmen. Schwere Vorwürfe – und unhaltbare Zustände.

Rechtsextremismusforscher Matthias Quent aus Jena sagte bei der Pressekonferenz im Theater der jungen Welt, die AfD habe ein gesellschaftliches Klima mit einer „Erlaubnis zum Hassen“ befördert. Er warnte vor der Ideologie des „großen Austauschs“, auf die sich auch der rechtsterroristische Mörder von Christchurch, in Neuseeland, berufen hat: Die Vorstellung einer ethnisch homogenen Gesellschaft sei nichts Anderes als „restriktiver Rassismus“, ja die „Vorbereitung rassistisch motivierter Staatsverbrechen“ mit Segregation und Deportationen. „Wie anders sollte man eine multikulturelle Gesellschaft wieder ethnisch homogen machen?“, fragte Quent. An diesem Tag waren nicht allzu viele Journalisten zu der Pressekonferenz in das Leipziger Theater gekommen – die Warnungen der Experten blieben ungehört.

Einen Monat nach diesem eindringlichen Appell versuchte Stephan B. nur wenige Kilometer entfernt in Halle ein Massaker an Juden zu verüben, die in der dortigen Synagoge das Jom Kippur Fest feierten. Als dies misslang, tötete der antisemitische Rechtsterrorist eine Frau und einen Mann. Das Entsetzen über den rechten Terror verflog schnell, weil neue Katastrophen folgten: Die parlamentarische Krise in Erfurt, in der sich CDU und FDP von Höckes AfD vorführen ließen. Rechter Terror in Hanau. Ein neues Flüchtlingsdrama an der griechisch-türkischen Grenze. Dann breitete sich das Corona-Virus über den Erdball aus und machte alles andere vergessen. Wenige Monate später wirkt der Appell der Opfervereine aus dem Leipziger Theater wie die Erinnerung an eine andere Welt.

Aber Rassismus und rechtsstaatliche Defekte werden in der Corona-Ära nicht einfach verschwinden, im Gegenteil. In der Krise richtet sich der Rassismus zunehmend gegen alle, die als „chinesisch“ angesehen werden – sie werden beschimpft, bedroht und bespuckt. Aber er richtet sich auch weiterhin gegen Juden und Migranten. Alte Sündenbock-Mechanismen liefern den Stoff für neue Verschwörungstheorien, die umso gefährlicher wirken, je radikaler die Folgen der Pandemie soziale Ungleichheiten vertiefen, Existenzängste schüren und Arbeitsplätze fressen.

 Rassismus – Ein traurig-alltägliches Phänomen

Lange vor Corona gab es in Ostdeutschland bereits gefährliche Gewöhnungseffekte an Rassismus, rechtsextreme Ideologie und rechte Gewalt – mehr noch als im Westen der Republik. Zudem gibt es im Osten einige exklusive Entstehungsursachen, wie den nie aufgearbeiteten DDR-Rassismus oder die traumatische Nachwendezeit, die bei vielen das Urvertrauen in die Demokratie erschüttert und Ansprechbarkeiten für rechtsextreme Homogenitätsideologien befördert hat. Das Hannah-Arendt-Institut hat festgestellt, dass es zwischen 2011 und 2016 dreimal so viele rechte Gewaltstraftaten im Osten wie im Westen gab, obwohl in den fünf ostdeutschen Ländern nur ein Fünftel der bundesdeutschen Bevölkerung lebt. Die Opferberatungen registrieren, dass nach Wahlerfolgen der AfD und erfolgreichen rechten Mobilisierungen für Demonstrationen die Zahl rassistisch motivierter Übergriffe jeweils spürbar steigen. Das war zum Beispiel nach den rechtsextremen Demos und gewalttätigen Ausschreitungen in Chemnitz so, wo in wenigen Wochen Dutzende Migranten, Journalisten und politisch Andersdenkende angegriffen wurden, ebenso das jüdische Restaurant Schalom. Als die meisten Reporter längst weitergezogen waren, gab es Drohungen gegen Gastronomen aus Persien und weitere Übergriffe gegen Migranten.

Die von Pegida und AfD befeuerten Diskurse um angebliche „Überfremdung“, „Islamisierung“ und einen „Bevölkerungsaustausch“ haben das gesellschaftliche Klima verschärft. Unterhalb der Schwelle zur Gewalt gibt es alltägliche Beleidigungen und Anfeindungen; beim Einkaufen, in der Straßenbahn. In diesem Klima bleiben selbst drastische Straftaten wie der Überfall von zwei Vermummten auf eine schwangere Frau aus Eritrea im sächsischen Wurzen nur folgenlose Randnotizen.

Diese Zustände sind aber kein Naturgesetz. Rassismus ist nicht angeboren, sondern er wird erlernt. Umgekehrt ist eine Gesellschaft, die auf Respekt und Teilhabe basiert, aber auch kein Selbstläufer. Zu lange wurde auch in der Presse empfohlen, auf die zunehmende Entgrenzung radikaler Worte und Taten mit Zuhören und Verständnis zu reagieren. Aber bei allem Verständnis für biographische Bruchstellen und Wutquellen: Auf die Folgen kommt es an. Wie wirkt die Wut? Völkische Ideologie schafft eben gerade keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern vertieft ganz im Gegenteil den Riss, der sich mittlerweile auch durch Familien zieht. Gegen die Radikalisierung braucht es ein politisches und gesellschaftliches Gesamtkonzept, einen großen Wurf, so etwas wie einen „New Deal Ost“: für mehr Demokratie – und gegen rassistische Ausgrenzung.

Zunächst gilt es, Probleme wieder richtig zu adressieren. Und aus dem riesigen Wutberg im Osten jene Ungerechtigkeiten auszugraben, die wirklich gelöst werden können und müssen. Denn nicht für alles gibt es einfache Lösungen: Dass so wenige Ostdeutsche bei Firmen, Gerichten und Universitäten in Führungspositionen sind, ist falsch. Aber eine Ostquote wäre heutzutage auch falsch, da gar nicht zu klären ist, wer denn nun „ostdeutsch“ sein soll: Was ist mit Kindern, die in Erfurt oder Weimar geboren sind, deren Eltern aber aus Hamburg, München, Kairo oder Peking stammen? Mein Vorschlag für ein vielfältigeres Führungspersonal in Banken, Konzernen, Gerichten und an den Unis: Diversität. Frauen und Männer, aus Ost und West, mit und ohne Migrationshintergrund.

Initiativen mit Zukunftssicherheit

Es braucht ein großes Demokratieprojekt. Dazu gehört ein neues gesellschaftliches Leitbild, das nicht Hautfarbe, Herkunft und Homogenität idealisiert, sondern auf gleichberechtigte Teilhabe setzt. In Schulen, Krankenhäusern, Altersheimen, Betrieben und Vereinen ist es viel wichtiger, gleiche Ziele zu haben und an gemeinsamen Projekten zu arbeiten, als die gleiche Religion zu teilen oder die gleichen Kinderlieder gesungen zu haben. Diese Botschaft, die auf den großen Unteilbar-Demos in Berlin und Dresden vertreten wurde, braucht es lauter und selbstbewusster – von Kirchen, Vereinen, Sportlern und Künstlern, aber auch von Politikern.

Die vielen Initiativen und Bündnisse, die es überall auch in kleinen Orten gibt, die aber zunehmend unter Druck von rechts geraten, müssen durch Demokratiefördergesetze dauerhaft abgesichert werden. Bisher sind Projekte für interkulturellen Dialog und gegen Rassismus und Antisemitismus gezwungen, sich von einer kurzfristigen Finanzierung zur nächsten zu hangeln – und sie sind auch in jenen Regionen von politischem Wohlwollen abhängig, wo die AfD zivilgesellschaftliches Engagement offen anfeindet. Die demokratischen „Graswurzelarbeiter“ brauchen langfristige Planungssicherheit und bessere Strukturen.

Bei Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten müssen die Themen Rassismus und Hasskriminalität fester Bestandteil der Ausbildung werden. Darüber hinaus ist es dringend notwendig, rassistische und rechtsextremistische Einstellungen in den Sicherheitsbehörden wissenschaftlich zu untersuchen und konsequent gegen Demokratiefeinde in den eigenen Reihen vorzugehen: Wer die ihm verhasste Demokratie an einem Tag X abschaffen will, kann kein Staatsdiener sein.

Und schließlich braucht es viel mutigere und bessere politische Bildung in den Schulen – mit Schüleraustausch, Zeitzeugengesprächen und Diskussionsforen zu aktuellen Themen wie Klimawandel und Migration. Davor haben sich Bildungspolitiker im Osten lange gedrückt, um nicht in den Verdacht zu geraten, Schüler in ähnlicher Weise zu indoktrinieren wie früher im Fach Staatsbürgerkunde der DDR. Doch Demokratie ist kein Selbstläufer.

 Sensibilisieren und Handeln

Dialog ist wichtig, auch über Meinungsgräben hinweg. Aber nicht alles ist kompromissfähig. Vor einem Jahr fanden in Erfurt zum „Tag der Arbeit“ am 1. Mai zwei große Kundgebungen statt – mit zwei unvereinbaren Gesellschaftsentwürfen. Vor der Thüringenhalle sprachen die AfD-Führungsfiguren Alexander Gauland und Björn Höcke zu ihren Anhängern. Höcke variierte sein oft gebrauchtes Bild, wonach die von ihm verächtlich genannten demokratischen „Altparteien“ Deutschland auflösen „wie ein Stück Seife unter einem lauwarmen Wasserstrahl“. In seinem Buch Nie zweimal in denselben Fluss deutet Höcke an, wie er dieses von ihm heraufbeschworene Schreckensszenario verhindern will: Er kündigt ein „großangelegtes Remigrationsprojekt“ für Migranten und in drohendem Ton eine „Politik der wohltemperierten Grausamkeit“ an. Man kann das so verstehen, dass Menschen, die hier leben, entrechtet und notfalls sogar deportiert werden sollen. Bei der Kundgebung in Erfurt wurde der AfD-Politiker von den Zuhörern mit begeisterten „Höcke, Höcke“-Rufen gefeiert.

Unweit der AfD-Bühne hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund an diesem sonnigen Maitag ebenfalls eine Bühne aufgebaut. Diverse Bands spielten Musik, es wurde getanzt, auf der Wiese aßen und tranken junge und alte Menschen, Einheimische und Zugezogene. Rednerinnen und Redner verschiedener Initiativen und Parteien forderten eine gerechte, solidarische und klimafreundliche Politik und sprachen sich gegen Rassismus aus. Es war die laute, selbstbewusste und fröhliche Absage an völkischen Nationalismus und zugleich eine vielstimmige Ansage, wofür die demokratische Mehrheit steht. Ein starker und lässiger Ausdruck jener Normalität, die das beste Argument gegen die gefährliche Sehnsucht nach Homogenität ist.

 

Michael Kraske (Jg. 1972) ist Journalist und Buchautor, u.a. schrieb er Reportagen und Porträts für Die Zeit, Geo, Psychologie Heute und Spiegel Online. Er befasst sich seit Jahren intensiv mit Rechtspopulismus und Rechtsextremismus.

Michael Kraske, Der Riss – Wie die Radikalisierung im Osten unser Zusammenleben zerstört, erschienen bei Ullstein, Preis: 19,99 Euro.


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