Über den physischen Tod hinaus


Dass wir eines Tages tot sein werden, ist unausweichlich. Doch nicht nur unser Körper oder unser Geist können sterben – über die Zusammenhänge des physischen, psychischen und sozialen Sterbens. Die drei Bereiche sind einerseits getrennt zu beobachten, andererseits jedoch miteinander verschränkt. Ein Gastbeitrag über die soziale und psychische Dimension des Sterbens.

von Klaus Feldmann

Menschen sind Primaten: Sie sind und haben Körper, Psyche und Sozialität. Allerdings haben sich die Menschen im Laufe der Evolution und Kulturentwicklung psychisch und sozial so weit von den anderen Primaten entfernt, dass ihr Leben und Sterben nicht mehr nur biologisch bzw. medizinisch-naturwissenschaftlich beschrieben und erklärt wird. Um die Vielfalt der historischen und kulturellen Ereignisse und der derzeitigen Lebenswelten differenziert zu erfassen, sollten physisches, psychisches und soziales Leben und Sterben unterschieden werden (siehe Infografik).

Die drei Bereiche des physischen, psychischen und sozialen Sterbens sind einerseits getrennt zu beobachten, andererseits jedoch miteinander verschränkt. Der Verlust von Körperfunktionen (Motorik, Wahrnehmung etc.) und Körperteilen ist dem physischen Sterben zuzuordnen. Psychisches Sterben hingegen meint den Rückgang von mentalen Kompetenzen und Bewusstseinsaspekten (Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Verständnis komplexer Kommunikation usw.). Unter sozialem Sterben versteht man den Wegfall sozialer Beziehungen und sozialen Kapitals (Sterben von Bezugspersonen, Vereinsamung etc.). Der Zusammenhang der Bereiche zeigt sich beispielsweise darin, dass vereinsamte und depressive Menschen eine geringere Lebenserwartung haben als Menschen, die in Gemeinschaften leben und psychisch stabil sind.

In den Anfängen der empirischen Sterbeforschung in den 1950er und 1960er Jahren wurde der Begriff soziales Sterben nur im Zusammenhang mit der physischen Sterbephase verwendet. Eine andere Definition besagte, dass soziales Sterben eintritt, wenn zum Beispiel Angehörige oder Pflegepersonal in Gegenwart einer sterbenden Person über sie so sprechen, als wäre sie physisch bereits tot. Doch kulturelle und gesellschaftliche Beobachtungen zeigen, dass derartige Begriffseingrenzungen ungeeignet sind, sowohl wissenschaftlich als auch die Alltagskommunikation betreffend. Status und Anerkennung sind für die gesellschaftliche Position einer Person von zentraler Bedeutung. Somit kann soziales Sterben soziologisch als starker Verlust von Status und Anerkennung bestimmt werden. Eine Person konnte ihre Ehre verlieren, wurde aus der Gemeinschaft ausgestoßen oder für vogelfrei erklärt. Zwar haben sich die kulturellen Formen des Anerkennungsverlusts geändert, doch grundsätzlich ist die Problematik erhalten geblieben.

Der soziale Tod kann damit auch vor oder nach dem physischen Tod eintreten – es gibt ein prämortales und ein postmortales soziales Sterben. In Hochkulturen spielte das postmortale Sterben, beispielsweise in Form einer risikoreichen Seelenreise in ein Jenseits, eine bedeutsame Rolle. Es gibt eine Reihe von historischen Fällen, in denen von neuen Machthabern versucht wurde, die bereits physisch gestorbenen Gegner sozial zu vernichten, indem sie ihre Leichen ausgruben und schimpflich behandelten. Beispiele für prämortales soziales Sterben finden sich im Mittelalter und in der Neuzeit: Oft wurden Mitglieder von Adelsfamilien, die entmachtet worden waren, auf Schlössern oder in Festungen als Gefangene gehalten. Die neuen Machthaber wollten verhindern, dass ihnen diese Konkurrenten gefährlich würden. Sie wurden nicht physisch, sondern sozial getötet. Eine besonders gravierende Form der sozialen Tötung war die Sklaverei. Personen wurden aus ihren kulturellen, verwandtschaftlichen und territorialen Bindungen herausgerissen und ihnen wurde der Status von Dingen, Tieren oder Nicht-Personen zugeschrieben. Ungewollte Kinder, Menschen mit Behinderung oder Verbrecher wurden teilweise in solche „Totenrollen“ hineingedrängt. Für Unterprivilegierte und ‚sozial Schwache’ findet in Gefängnissen, Flüchtlingslagern, Slums und Pflegeheimen entwürdigendes soziales und psychisches Sterben statt.

Wie das physische kann auch das soziale Sterben sehr unterschiedlich verursacht werden. Menschen verlieren Anerkennung und Status durch Krankheit, Arbeitslosigkeit, Trennung von der Familie, Gefängnisstrafen oder Krieg. Auch im 21. Jahrhundert wurden Millionen von Menschen vertrieben, ihres Lebensraumes beraubt, gedemütigt und verletzt. Genozid ist eine besonders gravierende Form des sozialen Tötens. Viele Menschen eines Kollektivs werden physisch getötet, Überlebende werden vertrieben, versklavt, enteignet und traumatisiert. Genozid kann mit Ökozid verbunden sein, wenn zum Beispiel indigene Gruppen durch Abholzung, Verschmutzung von Gewässern oder andere Formen der Umweltzerstörung ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden.

Psychisches Sterben kann sowohl durch Erkrankungen, wie schwere Depression und Demenz, als auch durch soziale Ereignisse, beispielsweise durch Traumatisierung verursacht werden. Es bestehen starke professionelle und ökonomische Interessen, das psychische Sterben zu medikalisieren und organisatorisch störende Einstellungen und Verhaltensweisen zu pathologisieren (Psychiatrie, Suizidologie).

In modernen Gesellschaften haben sich in den letzten Jahrzehnten aber auch neue Formen des sozialen und psychischen Sterbens entwickelt: Exklusion aus dem produktiven Zentralbereich durch Arbeitslosigkeit oder Verrentung, Ein-Personen-Haushalte, Demenz etc. können heutzutage vergleichbar gravierende Konsequenzen nach sich ziehen.

Viele lehnen „entwürdigende“ Formen des psychischen, sozialen und physischen Sterbens ab, wie etwa schwere Demenz oder Dauerkoma. Gerade Demenz, eine immer häufiger auftretende Form des psychophysischen und sozialen Sterbens, wird gefürchtet, da die gravierende Persönlichkeitsveränderung zu Verlust von Anerkennung, Kommunikationskompetenz und Selbstkontrolle führt. Es gibt Menschen, für die die selbstbestimmte Gestaltung des psychischen und sozialen Sterbens wichtiger ist als ein ‚ordnungsgemäßes natürliches‘ Sterben, als Lebenslänge oder als Gehorsam gegenüber der herrschenden Moral. Menschen mit derartigen Welt- und Personenbildern trachten den Zustand fortgeschrittener Demenz oder andere gravierende psychosomatische Zerstörungsprozesse zu vermeiden – zur Erhaltung ihrer Würde und teilweise auch aus Rücksicht auf ihre Angehörigen.

Sterben ist ein komplexes, das Leben begleitendes Geschehen. In der letzten Phase wird das Sterben der meisten Menschen in reichen Staaten mit hohem ökonomischem Aufwand durch Ärzte und Pflegepersonal professionell ‚gestaltet‘. Trotzdem wird häufig Kritik an dem vorherrschenden Umgang mit Sterben geübt: an der Verlängerung des Sterbens, der Einweisung ins Krankenhaus, der Einsamkeit von Menschen ohne Bezugspersonen und der Missachtung der Bedürfnisse von Sterbenden. Eine Lösung, die der Soziologe Allan Kellehear vorschlägt, sind sogenannte „compassionate cities“: Modelle der Gemeinschaftsentwicklung und der Verbesserung der Teilhabechancen. Allerdings wird der Aufbau derartiger neuer Lebenswelten politisch, sozial und medizinisch bisher zu wenig gefördert. Denn die Medikalisierung und Ökonomisierung des Sterbens hat dazu geführt, dass gemeinschaftliche, kulturelle und soziale Aspekte in den Hintergrund gedrängt wurden. Wenn Personen ihr psychisches oder soziales Sterben als unerträglich empfinden und ihr physisches Leben beenden wollen, werden sie pathologisiert und Personen, die sie einfühlend unterstützen, werden kriminalisiert. Diese Kriminalisierung deutet darauf hin, dass Sterben und Tod – wie in früheren Zeiten – im Zentrum von Herrschaftsinteressen stehen, was sich auch in Demokratien nicht geändert hat.

© Klaus Feldmann

Unser Gastautor:

Prof. Dr. Klaus Feldmann
war bis 2004 als Soziologe an der Universität Hannover tätig und wirkt derzeit bei Forschungsprojekten an der Abteilung für Bildungswissenschaft der Wirtschaftsuniversität Wien mit. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bildungsforschung und Thanatosoziologie.


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