„Das aufzuarbeiten braucht Zeit“

Die Hebamme Elisabeth Blecks ist auf die Betreuung von Sternenkindeltern spezialisiert. Diesen Begriff verwendet man für Säuglinge, die bereits vor oder kurz nach der Geburt sterben. Hinter der  poetischen Wortschöpfung verbirgt sich vor allem eine Extremsituation für die Eltern, die Grenzerfahrung an der Schwelle zwischen Leben und Tod ist emotional belastend. Mit unique spricht Frau Blecks über ihre beruflichen und persönlichen Erfahrungen.

Das Interview führte Lara

unique: Frau Blecks, was bedeutet es für Eltern, zu erfahren, dass ihr Kind nur sehr kurz leben wird?

Elisabeth Blecks: Zuerst will man es überhaupt nicht wahrhaben, fühlt sich wie im falschen Film. Dann folgt die Schockphase, die absolute Verzweiflung. Die Trauerphasen sind bei Sternenkindern dieselben. Irgendwann nimmt man es dann an, wie es ist. Nur – so schlimm wie es auch klingt – wenn jemand gestorben ist, ist er tot und man durchläuft die Trauerphasen. Wenn ich aber die Diagnose habe, dass mein Kind sterben wird – vielleicht noch im Mutterlaib – beginnt damit die erste Trauerphase, aber es geht dann nicht vorwärts. Ich spüre ja weiterhin die Bewegungen, die Tritte, die Lebenszeichen meines Kindes.
Anfangs fühlt man sich nicht fähig, ein Kind zu bekommen, als schlechte Frau, als schlechte Mutter. Überall sind diese W-Fragen – warum, wieso, weshalb – im Kopf und das Schlimmste ist: Niemand kann sie einem beantworten. Das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen sinken stark, weil man immer die Schuld erstmal bei sich selbst sucht. Was habe ich falsch gemacht? Hätte ich jetzt doch nicht den großen Spaziergang machen dürfen? Frauen, die erst im dritten Monat erfahren, dass sie schwanger sind und am Anfang noch geraucht haben, machen sich größte Vorwürfe. Das aufzuarbeiten, braucht Zeit.

Wie verändert ein Sternenkind das Familienleben und die Beziehung der Eltern?

Sehr viele Ehen und Beziehungen gehen kaputt. Männer und Frauen trauern anders; Frauen gehen viel emotionaler damit um. Männer trauern eher für sich; sie weinen selten und meist erst dann, wenn das Kind tot im Arm liegt. Wenn nicht offen darüber geredet wird, fühlt sich die Frau oft nicht verstanden und hat irgendwann den Eindruck, der Mann trauert gar nicht.

Wie kann Ihre Betreuung in der Diagnosephase und dem weiteren Verlauf helfen?

Das Wichtigste ist die Zeit. Wir Hebammen kommen zu den Frauen nach Hause, wir sind da und hören uns alles an und wir geben Tipps und Empfehlungen, helfen auch bei Formalitäten. Die Eltern können sich verstanden fühlen. Das kann ein Gynäkologe nicht leisten, weil er eine Durchlaufpraxis mit vollem Wartezimmer hat. Da ist so eine Diagnose schnell gestellt und die Frau muss wieder gehen. Viele Frauen finden mich dann übers Internet oder die sozialen Medien. Gerade, wenn es das erste Kind ist, wissen sie oft gar nicht, dass sie vom positiven Ergebnis auf dem Schwangerschaftstest an ein Recht auf eine Hebamme haben.

Haben Sie damit gerechnet, welche Rolle der Tod in einem Beruf spielen kann, der eigentlich sehr auf das Leben fixiert ist?

Das war mir leider sehr bewusst. Meine Mutter hat damals ein Kind verloren. Das haben meine ältere Schwester und ich natürlich mitbekommen: Der Bauch war schon gewachsen, das Kind ist Ende des vierten Monats verstorben. Für uns Teenager war das ein harter Brocken. Aber für meinen Berufswunsch war es damals noch nicht wichtig. Da hat das Leben und die Arbeit mit den Frauen überwogen. Hebamme zu werden, war ein Herzenswunsch, schon seit ich zwölf war. Mit 14 Jahren bin ich dann nochmal große Schwester geworden. Das Miterleben der Schwangerschaft der eigenen Mutter und dann das Baby – das war für mich ein klares „jawohl“.

Durch meine Ausbildung in der Universitätsklinik Erlangen habe ich sehr viel erlebt – gutes, wie auch nicht so schönes. Hier hatte ich auch mit Sternenkindern, Totgeburten und Fehlgeburten zu tun. Darauf wurde ich von Anfang an sehr geprägt. Unmittelbar nach meiner Ausbildung habe ich dann selbst im neunten Monat ein Kind verloren.

Wie hat dieser Verlust Sie geprägt?

Das Leben ist endlich. Das plötzlich als junger Mensch – ich war noch keine 25 – zu erfahren, hat sehr viel verändert. Ich habe mich intensiv mit Tod, Leben und Wiedergeburt beschäftigt.  Wenn man selbst Zweifel an allem hat, versucht man, nach irgendeinem Strohhalm zu angeln. Das hat mich extrem geprägt, ich glaube für mein ganzes Leben. Es ist alles endlich. Wenn man das plötzlich selbst miterlebt, beginnt man, einfach mehr auf sich selbst und auf seine Liebsten zu achten. Man geht bewusster durch das Leben und wägt mehr ab: Ist das jetzt wichtig, lohnt es sich, sich darüber Sorgen zu machen? Im Alltag fällt das natürlich immer wieder schwer – das kennen wir ja alle, wenn wir im Stress sind. Aber man sollte immer mal wieder ein bisschen innehalten und feststellen: Ich lebe. Ich bin gesund, meine Familie ist gesund.

Sind Sie religiös?

Ich bin nicht religiös, nein. Ich glaube aber auf jeden Fall an ein Leben nach dem Tod. Wie das aussieht, wissen wir ja alle nicht, aber die Energie, unser Geist, das, was uns ausmacht – ich glaube, dass das weiterlebt. Das habe ich auch meinen Sternenkindern zu verdanken, da ich mich durch sie damit beschäftigt habe. Es heilt auch: In einem religiösen Glauben oder der Spiritualität liegt immer etwas, was im Trauerprozess hilft.

Was hat Ihnen geholfen, mit dem Verlust umzugehen?

Vor allem meine Kinder. Ich bin damals sehr schnell wieder schwanger geworden: Fast ein Jahr später kam mein Sohn auf die Welt. Das war eine sehr schwere Schwangerschaft, einfach wegen den erlebten Ängsten. Darum kann ich die Frauen verstehen, die ich betreue, wenn sie nach einem Sternenkind wieder schwanger sind. Das ist manchmal ganz schwer, niemand versteht einen. Alle sagen „Mensch, freu dich doch! Du bist doch wieder schwanger“. Dabei kann man eigentlich nur heulen, weil man so wahnsinnige Angst hat. Aber meine Kinder haben meine Seele geheilt.

Glauben Sie das eigene Kinder das eigene“ Hebammen-Sein“ positiv beeinflusst?

Ich weiß es nicht. Manchmal kann ich mir schon vorstellen, dass etwas fehlt – gerade das Hineinversetzen in Schmerz, in Angst. Wenn die Schwangeren auf ihren Entbindungstermin warten, dann ist er da und das Baby immer noch nicht. Wenn man dann als Hebamme mitreden kann – nicht nur aus Büchern und dem Beruf, sondern auch als Mutter – ja, ich glaube manche Frauen fühlen sich besser verstanden. Aber ich kenne auch viele Hebammen, die kinderlos sind – meistens ungewollt – und trotzdem wundervolle Hebammen sind und ihren Beruf feinfühlig professionell und liebevoll ausüben. Es kommt auf die eigene Persönlichkeit an.

Hat Ihr Verlust verändert, wie Sie Ihre Arbeit machen?

Ich wäre nicht die Hebamme, die ich jetzt bin. Ich will auf keinen Fall sagen, dass nur eine Hebamme, die selbst ein Sternenkind geboren hat, gut damit umgehen kann. Aber man ist natürlich viel feinfühliger, sensibler, kann sich wahnsinnig stark in die Frauen hineinversetzen. Schon das allein hilft den Frauen, den Männern, den Geschwisterkindern. Man fühlt sich immer besser, wenn man mit jemandem darüber reden kann, der dasselbe erfahren hat, der mitreden kann. Die Frauen sehen: Sie hat es ja auch irgendwie geschafft, jetzt hat sie ja wieder Kinder. Damit gebe ich ein Stück Hoffnung.

War das der Grund dafür, dass Sie beschlossen haben, eine Weiterbildung zur Spezialisierung auf Sternenkinder zu machen?

Als ich in meiner eigenen Trauerphase gesteckt habe, kam mir oft die Frage in den Kopf, „kann ich überhaupt jemals wieder als Hebamme arbeiten?“. Nach ein paar Monaten war ich aber zum Glück wieder gestärkt. Ich hatte damals eine sehr tolle Hebamme und in Frankfurt, wo ich gelebt habe, gab es auch viele Selbsthilfegruppen. Meine Erfahrung hat mir bewusst gemacht: So etwas gibt es nicht häufig. Da war für mich eigentlich klar, dass ich auch wegen dieser Erfahrungen sicherlich für viele Frauen ein Anlaufpunkt sein könnte. Weil sie wissen: Da ist eine Hebamme, die hat dasselbe erlebt. Und damit ich besser vorbereitet bin, habe ich Weiterbildungen in dem Gebiet gemacht.

Wenn Sie jetzt mit Frauen arbeiten, die Ähnliches erleben wie Sie, ist das sicher eine emotionale Belastung. Wie gelingt es Ihnen, so etwas nicht an sich ranzulassen?

Ich glaube es gibt keine Hebamme, die es schafft, so etwas nicht an sich heran zu lassen. Es geht einem immer nah. Man ist eine Frau, man ist vielleicht selbst Mutter. Gerade wenn man so wie ich und viele Kolleginnen als freiberuflich tätige Hebamme die Schwangeren schon sehr früh in der Schwangerschaft kennenlernt und sehr intensiv betreut, hat sich eine gewisse Beziehung aufgebaut. Wenn dann das Kind verstirbt, egal in welchem Alter, ist das immer emotional. Und natürlich kommen bei mir immer wieder Erinnerungen hoch, keine Frage. Aber jetzt, da sich das zum 12. Mal jährt, denke ich mit einem tränenden und einem lachenden Auge an mein Sternenkind zurück. Damit kann ich gut umgehen. Natürlich kullern auch bei mir Tränchen, wenn ich mit den Frauen zusammensitze. Dann weinen wir halt zusammen. Das gehört dazu.

Häufig stehen Eltern, die erfahren, dass ihr Kind geringe Überlebenschancen hat, vor der Entscheidung, ob sie das Kind überhaupt austragen wollen. Wie können Sie als Hebamme bei solchen Entscheidungen helfen?

Auffangen ist ganz wichtig. Ich sage den Eltern, dass sie sich Hilfe holen, sich informieren sollen, vielleicht noch zu einem Genetiker gehen und sich eine zweite Meinung holen. Mehr kann ich nicht machen. Ich kann nicht meine eigene Meinung sagen. Die Entscheidung kann ihnen niemand abnehmen. Egal, für was sie sich entscheiden, es gibt in solchen Momenten kein richtig und kein falsch. Was jetzt richtig ist, ist vielleicht in 5 Jahren falsch und umgekehrt. Wichtig ist, dem Paar die Sicherheit zu geben, für sie da zu sein – egal wofür sie sich entscheiden.

Fällt Ihnen das manchmal schwer?

Natürlich, gerade wegen meiner eigenen Erfahrung. Mein Kind hatte eine schwere Chromosomenstörung und war nach der Geburt nicht lebensfähig. Ich selbst wäre froh, meinem Kind einmal in die Augen schauen zu können. Aber das kann man nicht über einen Kamm scheren. Ich würde mich niemals so weit aus dem Fenster lehnen, zu sagen „mach dies, mach jenes“. Es fällt ja auch den Paaren schwer, überhaupt eine Entscheidung zu treffen – es wäre immer schön, die Entscheidung nicht selbst treffen zu müssen. Aber mit der heutigen Schwangerschaftsdiagnostik entdeckt man eben viel schon sehr früh.

Was kann die Gesellschaft tun?

Man könnte es den Paaren leichter machen. Dass man, wenn man gerade ein Kind verloren hat, nicht noch in den ersten zwei Wochen auf ein Standesamt gehen und seine Geburtsurkunde abholen muss, sondern sie vielleicht per Post zugeschickt bekommt. Denn eigentlich wollen die Eltern sich einigeln, und nicht rausgehen. Von der Politik kam zum Glück in den letzten Jahren ein bisschen was: Seit 2013 haben auch Sternenkinder, die weniger als 500 Gramm leicht sind, ein Recht auf ein Grab und eine Geburtsurkunde. Das ist schon mal ein riesiger Meilenstein – davor wurden Kinder unter 500 Gramm schlicht auf den Klinikmüll geworfen. Da gabs kein Grab, da gabs keine Beerdigung, da gabs nichts. Die meisten Frauen durften das Kind nicht sehen, sie wussten nicht einmal das Geschlecht von ihrem Kind.

Glauben Sie, dass in der Gesellschaft offen genug über das Thema geredet wird?

Auf keinen Fall. Ein Problem dabei sind die unterschiedlichen Generationen. Oma und Uroma sind die typische Nachkriegsgeneration. Die gelernt hat, stark zu sein, Augen zu und durch. Manchmal wollen sie dann gar nicht darüber reden – und sagen zwei Wochen später „ach komm, jetzt genug getrauert und jetzt geht’s weiter“, „jetzt kannst du ja wieder Kinder kriegen“. Für die Paare – auch die Männer, nicht nur die Frauen – ist es neben dem Verlust am allerschwersten, dass man immer dafür rechtfertigen muss, warum man denn nach sechs Wochen immer noch trauert.

Was würden Sie sich vom Umfeld wünschen, um Betroffenen den Umgang mit einem Sternenkind zu erleichtern?

Dass es die Familien trauern lässt, keinen Druck aufbaut. Gut gemeinte Ratschläge und Trost kommen meistens nicht gut gemeint rüber, weil sie das Gefühl vermitteln, ich muss jetzt wieder glücklich sein. Dann rattert da noch mehr im Kopf der trauernden Familie: Warum bin ich noch nicht wieder glücklich, bin ich irgendwie komisch, bin ich krank? Es ist wichtig, der trauernden Familie so viel Zeit geben, wie sie braucht. In der Sterbehilfe und bei allen, die mit Sterbenden zu tun haben, weiß man, dass das erste Jahr nach dem Verlust eines geliebten Menschen immer das schwierigste ist. Das Beste ist dann, zuzuhören und das Kind nicht totzuschweigen. Mehr wollen Sternenkinderfamilien nicht.

Frau Blecks, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Wer mehr über Elisabeth Blecks und ihre Arbeit erfahren möchte findet auf der Webseite der Praxis „Storchenduo“ weiterführende Informationen.

 


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