Wie können wir menschliche Einflüsse auf die Erde messen und vorhersagen? Mittels Satellitendaten versucht die Geographin Christiane Schmullius, die Veränderung der Wälder einzufangen – und Klimakritikern unleugbare, bunte Bilder entgegenzusetzen.
von Friederike Andrees
An der Wand steht ein großes Bücherregal mit Glastüren, darin das Kosmos Wald- und Forstlexikon direkt neben Lineare Algebra. In der Ecke kreisen Modelle von Satelliten. Auf der Etage für Fernerkundung des Instituts für Geographie sieht es genau so aus, wie man es sich vorstellt. Das Büro ist groß und hell, voll von Büchern mit unverständlichen Titeln und Zimmerpflanzen. Hier arbeitet eine Informatikerin, die Pflanzen liebt. Das sieht man sofort. Christiane Schmullius hat ihr Interesse für die Natur bereits als Kind in einer Wanderer-Familie entdeckt: „Ich war jeden Samstag, egal was für Wetter draußen war, von morgens bis abends im Wald“, erzählt sie. Heute, über vierzig Jahre später, ist Schmullius eine der führenden deutschen Fernerkundlerinnen, und der Wald zum Kern ihrer Forschungsarbeit geworden. Als Inhaberin des Lehrstuhls für Fernerkundung in Jena versucht sie, die Veränderungen der Wälder auf der ganzen Welt einzufangen und einen visuellen Beleg menschlicher Einflüsse auf die Erde zu schaffen. Denn Veränderungen der Erde sind für die meisten Menschen nur schwer greifbar, umso mehr, wenn es sich um Prognosen basierend auf Schätzungen handelt. Doch wie kann man aktuellen und auch zukünftigen Wandel sichtbar machen und Zukunftsprognosen überprüfen?
Schmullius‘ Antwort auf diese Frage sind sogenannte Biomassekarten. Auf Basis von Satellitenbildern zeigen solche Karten den durch die Biomasse gebundenen Kohlenstoff auf der Erdoberfläche. Das klingt erstmal abstrakt. Einfach erklärt: Google Earth zeigt mir Grünflächen auf der Erdoberfläche. Dann weiß ich: Dort wachsen Pflanzen. Biomassekarten zeigen mir, wie viel Kohlenstoff gebunden ist. Das Holz von Baumstämmen hat den meisten gebundenen Kohlenstoff. So können die Karten zwischen dünn bepflanzten Regionen und großen Waldflächen unterscheiden. Als erste Forscherin hat Schmullius eine vollständige Biomassekarte des gesamten Planeten erstellt. Bisher beruhten die Angaben über die Größe der Waldflächen und den gebundenen Kohlenstoff nur auf Schätzungen. Somit war auch nicht vorhersagbar, wie viele Bäume verschwinden können, bevor die Menschheit erstickt. Durch das genaue Messen der Biomasse kann der Anteil an Kohlenstoff ermittelt werden, der in unseren Wäldern gebunden ist und demnach durch Rodung in die Atmosphäre gelangen könnte. Drei Jahre hat es gedauert, die Daten über die Erdoberfläche zu sammeln und auszuwerten – heute zeigt sie mir den vollständigen Waldbestand der Erde in einem gebundenen Atlas.
Fehlende Naturnähe
Diese Wälder sind es, die uns Menschen das Leben auf der Erde ermöglichen. „Deswegen ist es wichtig, dass wir diese Waldflächen beobachten. Wenn wir Wald verlieren – ob durch Feuer, Insektenbefall oder Abholzung, dann schädigen wir unsere Lunge. Wir killen das System, das uns Sauerstoff zum Atmen gibt.“ Dass sich daran in Zukunft etwas ändern wird, glaubt Schmullius allerdings nicht. „Ich glaube, dass die Menschheit die Nähe zur Natur verloren hat. Wir nehmen das alles in Kauf.“ Niemand regt sich darüber auf, dass die Singvögel verschwinden oder die Arktis schmilzt, wenn es niemanden gibt, der an solchen Naturerscheinungen emotional hängt. Niemand wird sich aufregen, wenn es immer weniger Wälder gibt, in die die Menschen ohnehin nicht gehen. „Ich bin recht pessimistisch, was die Chancen für eine gesunde Mensch-Erde-Beziehung angeht“, meint Schmullius resigniert. „Wir sind doch alle bequem und wollen in den entwickelten Ländern nicht auf das verzichten, was wir uns bezüglich Essen und Aktivitäten angewöhnt haben. In armen Ländern haben die Menschen oft keine Wahl.“
Nicht die idealistische Hoffnung, die Welt zu verbessern, hat Schmullius damals zur Fernerkundung gezogen – es ist wissenschaftliche Neugier, die sie auch bis heute antreibt. Nach dem Geographiestudium machte sie Anfang der 80er Jahre ein Praktikum in einer Firma, die als eine der ersten mit Satellitenbildern arbeitete. „Der erste Blick auf einen Bildschirm mit diesen bunten Satellitenbildern hat mich so fasziniert, dass ich ab dem Zeitpunkt einfach neugierig war: Was kann man damit machen? Und das ist nach wie vor meine Motivation – die bunten Bilder, hergestellt in Wellenlängenbereichen, die unsere Augen nicht wahrnehmen!“ Seitdem hat diese Neugier Schmullius weit gebracht: Ihr Lehrstuhl kooperiert mit DLR, ESA und NASA, sie ist Mitglied in verschiedenen internationalen Gremien und 2010 erhielt sie für ihr Engagement in den ostdeutschen Bundesländern das Bundesverdienstkreuz erster Klasse.
Den Wandel der Wälder kartieren
Ihr derzeitiges Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, auf Basis der Biomasse umfangreiche Change-Maps der Waldentwicklungen anzufertigen. Change-Maps sind Karten, die die Veränderungen der erfassten Gebiete wie Vorher-Nachher Aufnahmen darstellen. Bisher haben die Fernerkundler solche changes, also Veränderungsbilder, nur auf Basis einfacher Satellitenbilder für einzelne Regionen, wie in Polen und Schweden berechnet. Dort werden Flächen überwiegend forstwirtschaftlich genutzt, was bedeutet, dass abgeholzte Flächen auch wieder aufgeforstet werden. Während Biomassekarten allerdings erkennen können, ob es sich um einen wieder aufgeforsteten oder einen älteren Wald handelt, verzeichnen die einfachen Satellitenbilder, die für diese herkömmlichen Change-Maps genutzt werden, diesen Unterschied nicht: Sie zeigen lediglich, dass es sich dort überhaupt um Waldflächen handelt.
„Wir haben zum Beispiel große Abholzungsflächen in Kanada kartiert, die jedoch in den UN-Statistiken nicht auftauchen, da der Versuch unternommen wird, aufzuforsten“, so Schmullius. „Dass es aber in nördlichen Bereichen über hundert Jahre dauert, bis ein Wald wieder die ursprüngliche Menge CO₂ veratmet und als Biomasse bindet, wird in dieser Flächenstatistik nicht berücksichtigt.“ Den Wandel der Biomasse zu berechnen, ist das nächste Projekt ihrer Forschungsgruppe. Damit könnte dann exakt gezeigt werden, wie viel gebundener Kohlenstoff vor einer Rodung da war und wie viel genau verloren gegangen ist – nicht nur in Zahlen, sondern für jeden verständlich in Bildern. Solche
Change-Maps könnten vielleicht doch noch etwas an der Mensch-Erde-Beziehung ändern. „Sie sind ein kleiner Hoffnungsschimmer“, meint auch Schmullius: „Unsere Erdbeobachtungssatelliten kartieren den Wandel. Das ist nicht erfunden. Das sind keine Comic-Strips, das sind echte Bilder der Erdoberfläche. Sie zeigen, was wir als Mensch verursachen. Es gibt keine Ausreden mehr.“
Zukunftsprognosen im Realitätscheck
Mit Change-Maps könnte es aber nicht nur möglich werden, Abholzungen und andere Veränderungen auf der Erdoberfläche für die Gegenwart nachzuweisen – sie können auch eine wichtige Hilfe sein, um Prognosen für den Zustand der Erde unter verschiedenen Einflüssen zu erstellen und zu prüfen. „Wir Fernerkundler kartieren die Wirklichkeit und den Wandel, die Modellierer machen Prognosen“, erklärt Schmullius. Bisher wurde dabei überwiegend mit Kohlenstoffmodellierern zusammengearbeitet: „Das Kohlenstoffmodell ist Teil eines Erdsystemmodells. Es versucht, alle Einflussfaktoren auf die Umwelt zu modellieren.“ So ein Modell berechnet Prognosen für bestimmte Zeitabschnitte unter den Einflüssen verschiedener Faktoren wie Temperatur, Niederschlag, Insektenbefall oder Menschen. Im Prinzip handelt es sich um starke Rechenprogramme, die aus diesen Informationen die Zukunftsaussichten bezüglich des Kohlenstoffs – also der Waldbestände – auf der Erde bestimmen.
Die Arbeit der Fernerkundung ist für diese Berechnungen als Kontrollinstanz relevant: Denn wenn die Modelle, ausgehend von existierenden Karten über das Jahr 1900, eine bestimmte Vegetation für die Gegenwart berechnet haben, können die Ergebnisse mit den heutigen Kartierungen abgeglichen werden. „Wir machen sozusagen einen Realitätscheck für die Modelle. Die Modellierer müssen natürlich sehen, ob ihre Prognosen stimmen. Daher starten sie das Modell in der Vergangenheit und vergleichen ihre Ergebnisse für die Gegenwart mit unseren Kartierungen. Sie können dadurch erkennen, ob ihr Modell die richtige Vorhersage entwickelt hat.“ Die dazu nötigen Satellitendaten sind mittlerweile für die gesamte Erde verfügbar. „Ich könnte wöchentlich einen Zustand der Erde wiedergeben, wenn ich die entsprechende Rechenleistung hätte.“
Die fehlt, laut Schmullius, allerdings noch: „Bestrebungen in diese Richtung werden von der FAO (Food and Agriculture Organisation der UN) im Moment gemeinsam mit Google in deren Rechner-Cloud angegangen.“
Mit einer solchen Rechenleistung, so Schmullius‘ Wunsch, könnte man diese Modelle nutzen, um auch im kleineren Rahmen wie beispielsweise für das Jenaer Stadtklima Prognosen machen zu können. Denn wenn das möglich wäre, wären die Menschen ganz lokal und regelmäßig mit den Veränderungen ihrer unmittelbaren Umwelt konfrontiert. Und vielleicht würden die Fernerkundler dann eines Tages auf eine gesündere Erde blicken und wir auf eine Google-Earth-Karte, auf der nicht wieder ein grüner Pixel mehr verschwunden ist.
Friederike Andrees studiert Germanistik und Kunstgeschichte und ist Teilnehmerin des Seminars „Wissenschaftsjournalismus am Beispiel des Anthropozäns“.
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