Um weltweiten Konflikten größere Aufmerksamkeit zu verschaffen, startet am 1. Februar das Projekt „365 Tage – Vergessene Konflikte“. Jeden Tag wird eine gewaltsame Auseinandersetzung vorgestellt, die aus dem Sichtfeld der allgemeinen Öffentlichkeit geraten ist.
von Annegret
Wie viele Konflikte gab es eigentlich im vergangenen Jahr? Zehn, zwanzig, fünfzig oder doch mehr? Spontan und mit Rückblick auf die mediale Berichterstattung haben sich einige im Bewusstsein verankert, allen voran der Bürgerkrieg in Syrien. Darüber hinaus schlugen die Unruhen in Ägypten, die Zusammenstöße in der Türkei und die Kampfhandlungen in Mali mediale Wellen. „Was sich in der Konfliktlandschaft abbildet, ist viel breiter, als das, was in der Medienberichterstattung letztendlich herauskommt. Da werden hauptsächlich sehr prominente, gewaltsame Konflikte behandelt“, so Elza Martinez vom Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK), das sich wissenschaftlich mit diesem Thema beschäftigt und jährlich eine aktuelle und weltweite Übersicht – das Heidelberger Konfliktbarometer – veröffentlicht. In der letzten Ausgabe über das Jahr 2012 wurden insgesamt 396 politische Konflikte registriert. Darunter fallen nicht nur Kampfhandlungen und gewalttätige Ausschreitungen: Die Heidelberger Konfliktforschung versteht unter diesem Begriff „Interessensgegensätze zu gesamtgesellschaftlich relevanten Gütern, die in ihrer Austragung außerhalb der etablierten Regelungsverfahren liegen und die Kernfunktionen des Staates bedrohen“. Dabei wird zwischen fünf Intensitätsstufen, die vom gewaltlosen Disput bis zum Krieg reichen, unterschieden.
„365“, lautete vor zwei Jahren die Antwort eines Praktikanten auf die Frage nach der jährlichen Zahl an Konflikten im Gespräch mit Dr. Nicolas Schwank, dem Leiter des Projekts. Die Übereinstimmung mit der Zahl der Tage in einem Jahr gab den eigentlichen Impuls für dieses Projekt und dessen Konzeption. Es wurde von CONIAS Risk Intelligence, einem Unternehmen, das sich erst kürzlich aus der Heidelberger Konfliktforschung heraus gegründet hat, ins Leben gerufen und wird in Kooperation mit den Mitarbeitern des HIIK realisiert.
Die bisherige Erfahrung hat gezeigt, dass Konflikte und Kriege zwar ein großes Interesse erwecken, aber nur wenig Informationen und Wissen über diese existieren. Deswegen soll das Projekt, das sich auch an Konfliktforscher und potenzielle Kunden des Träger-Unternehmens richtet, eine Vermittlungs- und Aufklärungsarbeit für die allgemeine Öffentlichkeit leisten. „Wir haben den Wunsch, die Allgemeinheit dafür zu sensibilisieren und darüber zu informieren sowie aufzuklären, welche Art von Konflikten es überhaupt gibt, wie viele es gibt, wie diese eigentlich ausgetragen werden und welche Auswirkungen diese mit sich bringen“, so Nicolas Schwank, „da einige noch die Vorstellung haben, dass Kriege noch immer als Panzerschlachten geführt werden.“ Dagegen würden Konflikte heutzutage ganz anders aussehen: Sie forderten nicht unbedingt eine große Zahl an Todesopfern, haben aber trotzdem enorme Auswirkungen für die jeweilige Bevölkerung, die sich häufig in Flucht und Vertreibung ausdrücken. Darüber hinaus würden viele Konfrontationen auch wieder reeskalieren, wie das am Beispiel des Kaukasus-Krieges zwischen Georgien und Russland 2008 zu sehen war.
Im Mittelpunkt des Projektes, das zurzeit hauptsächlich auf ehrenamtlicher Arbeit basiert und später auch über Sponsoring finanziert werden soll, steht ein Newsletter. Dieser erscheint ab Februar 2014 täglich auf Facebook und ist nach Abonnierung per E-Mail erhältlich sowie auf der eigens dafür gestalteten Homepage einsehbar. Von Montag bis Freitag informiert ein Artikel über Entstehungshintergründe, Konfliktgegenstand, beteiligte Akteure und Verlaufsdynamiken der jeweiligen Auseinandersetzung, basierend auf den Daten der Heidelberger Konfliktforschung und unter Mitarbeit des HIIK. Dabei liegt der Fokus in erster Linie auf den Hintergründen und nicht so sehr auf dem aktuellen Konfliktgeschehen. Wochenends folgen dann eine Zusammenfassung und ein Ausblick auf die kommende Woche. Um eine Auswahl aus den vorhandenen Konflikten zu treffen, wurden verschiedene Kriterien herangezogen. Ein Kriterium im Hinblick auf das „Vergessen“ ist die fehlende Berichterstattung über eine aktuell laufende Auseinandersetzung; auch bedeutsame historische Konflikte und ihre Auswirkungen werden vorgestellt. Neben diesen Aspekten spielten besonders die gleichberechtigte Berücksichtigung der fünf Weltregionen und die Zahl der Betroffenen – u. a. sichtbar in den Fluchtbewegungen – bei der Auswahl eine Rolle. So wird 2014 zum Beispiel auch an den Bürgerkrieg in El Salvador in den 1980er Jahren und an die Zerfallskriege in Jugoslawien erinnert.
Das „365 Tage“-Projekt möchte dabei mit seinem Informationsangebot einen Akzent setzen, denn trotz unvollständiger und teilweise mangelnder Medienberichterstattung, macht Nicolas Schwank deutlich: „Die Konflikte und Probleme sind weiterhin da.“ Als Ursache für dieses unstimmige Verhältnis, das bereits auch in der Forschung Aufmerksamkeit erhalten hat, sieht er die Selbst- und Fremdwahrnehmung Deutschlands. „Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Erstarken Deutschlands als Wirtschafts- und politische Macht sind die Länder in Afrika und Lateinamerika für uns scheinbar nicht mehr so wichtig.“ Eine gute Berichterstattung müsse seiner Ansicht nach ihren Fokus stärker auf die internationalen Geschehnisse legen, um diese Länder wieder stärker ins deutsche Bewusstsein zu bringen.
Dieses Projekt bietet nun eine Möglichkeit, sich in einem detailliert-wissenschaftlichen, aber gleichzeitig auch überschaubar aufbereiteten Rahmen über „vergessene“ politische Konflikte und deren Auswirkungen zu informieren. Es steht dabei auch im Kontext der kritischen Anmerkungen verschiedener NGOs – etwa des Projektpartners CARE Deutschland-Luxemburg –, die ebenfalls immer wieder auf vergessene Katastrophen sowie auf deren Hintergründe aufmerksam gemacht haben. Außerdem beruft sich Nicolas Schwank auf den DRK-Präsidenten, Dr. Rudolf Seiters, wenn er sagt, dass über Konflikte und Kriege viel zu wenig berichtet wird, während Naturkatastrophen sehr ausführlich in den Medien behandelt werden. „Die Spendenbereitschaft ist da besonders groß. Bei Konflikten schaut keiner hin, aber die humanitären Auswirkungen sind nicht geringer.“
Mehr Infos unter www.vergessene-konflikte.de
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