Kunst hautnah: 1000 Tattoos

Tattoo: Dave Lum, Salem, USA (Oregon), © The Amsterdam Tattoo Museum, Amsterdam

Im TASCHEN-Verlag machen der Kunsthistoriker Burkhard Riemschneider und Tattoo-Legende Henk Schiffmacher die Geschichte der Tätowierkunst nachvollziehbar.

von Robert

Hipp oder kriminell? Jugendsünde oder Schmuck fürs ganze Leben? Wer schon immer etwas mehr über Tätowierungen wissen wollte, aber nicht die Lust oder das Geld hat, sich selbst unter die Nadel zu legen, kann es ja mal mit dem Bildband 1000 Tattoos von Burkhard Riemschneider versuchen. In vier Kapitel und 1.000 Bildern versucht Riemschneider, das Mysterium Tattoo zu ergründen. Den Fotographien voran steht ein Essay von Tattoo-Koryphäe Henk Schiffmacher, der das Tattoo als gesellschaftliches Phänomen beleuchtet. Die Motive auf der Haut sind laut Schiffmacher für den Einzelnen Ausdruck seiner individuellen Neigungen und Art, doch zugleich Symbol für soziale Einheiten, wie Glaubensgemeinschaften oder regionale Gruppen.
Das Buch verfolgt in chronologischer Reihenfolge die These Schiffmachers, beginnend mit den Eingeborenen der Inselstaaten Samoa, Tahiti und Neuseeland: großflächige Stammestätowierungen bei Mann und Frau, die sich über den ganzen Körper ziehen können; Krieger und Häuptlinge, über deren Brust sich blitzähnliche schwarze Balken ziehen oder Frauen mit traditionellen Symbolen auf Kinn oder Stirn.
Das nachfolgende Kapitel, der umfangreichste Teil des Buches, präsentiert die europäische und US-amerikanische Tätowierszene, von den frühen 1920ern bis in die 80er Jahre. Hier scheint sich das lange bekannte Klischee von Tätowierten zu bestätigen: Man sieht reihenweise Seemänner, Polizisten, Soldaten oder Häftlinge, oft in Kraftpose mit verschränkten Armen oder angespanntem Bizeps. Es dominiert das kleinflächige Tattoo. Durchstochene Totenköpfe, Schlangen, Segelschiffe, Rennpferde und immer wieder das Herz mit dem Namen der Liebsten oder der Mutter, formen zusammen eine Art Flickenteppich, der meist Arme und Brustkorb bedeckt, manchmal auch den ganzen Körper. Die Fotos von tätowierten Zirkus-Frauen bilden hierbei die einzige Ausnahme in diesem Bataillon von testosterongeladener Männlichkeit.

Edith Burchett, London, Great Britain, ca. 1920, © The Amsterdam Tattoo Museum, Amsterdam

Anschließend wagt ein Abschnitt den Sprung nach Japan: Zwar verwenden die Herausgeber hier größtenteils zeitgenössische Bilder, allerdings mit traditionellen Motiven. Gegen die japanischen Meisterwerke wirken die Bilder des Vorkapitels wie die Kunst von Kleinkindern: Majestätisch erstrecken sich hier ganze Bildszenen über die Körper. Ein Samurai zieht seinen Kampf mit einem Drachen von einer Hand zur anderen, gigantische Fische tummeln sich auf Rücken und Gesäß; Blumenlandschaften sprießen auf einem Brustkorb. Die traditionelle japanische Tätowierung besticht hierbei nicht nur durch ihre Liebe zum Detail und ihre präzise Nadelsetzung, sondern folgt – im Gegensatz zum damaligen europäischen Ableger – immer einem Konzept, einem festen Motiv. So wird das Tattoo zu einem großflächigen Gesamtkunstwerk statt zu einem Flickenteppich von Einzelmotiven.
Im abschließenden Kapitel des Bandes schließlich kommt die moderne Tätowierkunst zum Vorschein. Alles bisher Gezeigte scheint dabei zu etwas Neuem zu fusionieren; es gibt keine Grenzen mehr für die Motive – egal ob Riesen-Tribal, Kinderportrait oder Nudelteller. Die Farbwahl wirkt voll und kräftig, die Feinheiten ausgeklügelt: das Tattoo auf dem Höhepunkt seiner Kunst und jenseits aller Grenzen.
Die ausgewählten Bilder sind größtenteils gestellte Aufnahmen, was der Wirkung aber nichts Plastisches gibt. Es finden sich Werke unbekannter Künstler vermischt mit Größen der Szene wie besagtem Henk Schiffmacher. Doch gerade wenn man sich die vermeintlich historische Linie ansieht, die Riemschneider durch seine Bildauswahl herstellt, fragt man sich, ob Ed Hardy, Jack Rudy oder Horiyoshi III nicht auch ihren Platz in diesem Bildband verdient gehabt hätten. Gerade unter diesem Aspekt erscheint das zweite Kapitel, im Verhältnis zu den beiden folgenden, unnötig aufgebläht.
1000 Tattoos
enttäuscht daher also insofern, dass es seinem eigenen Anspruch nicht wirklich gerecht wird: Es schwimmt an der Oberfläche des Ganzen, ohne jemals wirklich einzutauchen. Vielleicht auch eine logische Konsequenz – denn auch 1.000 Bilder reichen nicht aus, um eine jahrhundertealte, derart vielschichtige Kunstform zu erfassen.

1000 Tattoos
herausgeg. von Burkhard Riemschneider und Henk Schiffmacher
Hardcover, Sonderausgabe
544 Seiten
14,99 €

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