Auch wer sich nicht rührte, konnte das Misstrauen des albanischen Diktators erregen – oft genügte es, die „falschen“ Verwandten zu haben.
von Henry Ludwig & Lukas Schwarze
Zamir ist albanischer Unternehmer, Ehemann und Familienvater. Die jungen Erwachsenen, die ihm gebannt zuhören, kommen aus Deutschland. Unter ihnen sind Studenten der Albanologie, die sich in Tirana eine Woche lang mit der kommunistischen Diktatur und ihren Nachwirkungen beschäftigen. Sie analysieren politische Karikaturen, suchen nach Spuren im Stadtbild, führen Gespräche mit Zeitzeugen.
So wie mit Zamir. Er sitzt da, den Kopf gesenkt, die Hände im Schoß, ein wenig in sich gekehrt. Nicht recht wissend, was gleich auf ihn zukommt, wartet er darauf, dass Ruhe einkehrt. Das, worüber er reden wird, begann vor mehr als 40 Jahren und wird ihn sein Leben lang begleiten. Er räuspert sich, hebt den Kopf und beginnt zu erzählen: Zamir war 15, als Diktator Enver Hoxha aus heiterem Himmel den Großvater zum Staatsfeind erklärte. Obwohl dieser in der Vergangenheit dem System als Innenminister gedient hatte, wurde er Opfer der paranoiden Säuberungen, die Hoxha während seiner Herrschaft zwischen 1944 und 1985 regelmäßig durchführen ließ. Die vorgeschobene Anklage lautete auf „feindliche Handlung gegen die Volksmacht“ und „versuchten Mord“ am Diktator.
Bestraft wurde stets die ganze Familie
Für Zamir hatte dies weitreichende Konsequenzen: In der Schule fand er sich inmitten der gesamten Schülerschaft wieder, die sich um ihn herum versammeln musste und durch die Schulleitung von der Verurteilung des Großvaters erfuhr. Alle Blicke fielen auf ihn – den Enkel eines Angehörigen der „feindlichen Gruppe”. Es wurde von jedem Anwesenden erwartet, auch Zamir gegenüber eine ablehnende Haltung einzunehmen. Fortan galt er für die meisten seiner Mitschüler als Feind, den man zu meiden hatte. Seine Eltern sahen sich zur Scheidung gezwungen, damit nicht die ganze Familie ins Arbeitslager musste. Ihr Haus wurde ihnen weggenommen. Seine Mutter, als Tochter des Verurteilten, kam in eine Internierungsstätte in Kurbnesh und wurde zur Zwangsarbeit in die dortigen Bergwerksminen geschickt. Sein Bruder, sein Vater und er selbst wurden in die Kleinstadt Rrëshen verbannt, die sie nicht verlassen durften. Zamir wurde der Besuch der Hochschule ebenso verwehrt wie das Recht auf Arbeit. Die Staatsmacht kannte kein Erbarmen und duldete keinen Widerspruch. „Wer den Finger hebt, dem werden wir die Hand abschlagen, wer die Hand hebt, den werden wir enthaupten“ lautete ein bekannter Ausspruch des Diktators. Zamirs Großvater hatte das nicht getan und wurde dennoch zum Tode verurteilt und am 10. September 1983 erschossen. Selbst danach wurde er von Hoxha noch als „der Niederträchtigste im gesellschaftlichen Morast” bezeichnet, wie aus dessen später öffentlich gemachten Tagebuch hervorging.
Bis heute sind die Akten unter Verschluss
Wie Zamir erging es vielen im kommunistischen Albanien. Die Angst, beim Regime in Ungnade zu fallen, war ein ständiger Begleiter. Expertenschätzungen gehen von mehr als 50.000 Menschen aus, die unter Enver Hoxha ins Gefängnis oder Arbeitslager kamen, oder gar hingerichtet wurden – und deren Angehörige Schicksale wie Zamirs erlebten. Die Zahl der so indirekt Betroffenen ist noch um ein Vielfaches höher.
Bis heute wird diese Problematik in Albanien kaum thematisiert. Dass die Geheimdienstakten, die Aufschluss geben könnten, von der Politik bisher unter Verschluss gehalten werden, führte zu zahlreichen Debatten über das Für und Wider ihrer Öffnung, nicht aber zu Ergebnissen. Infolgedessen kann bei der jüngeren Generation schwerlich ein Bewusstsein für die Vergangenheit entstehen. Auch wird im staatlichen Lehrplan die Aufarbeitung der Diktatur nicht explizit gefordert: Die Zeit des Kommunismus taucht zwar als Thema im Geschichtsunterricht auf, jedoch ohne sonderlich reflektiert zu werden.
Fassadenputz oder Grunderneuerung?
Dennoch bewegt sich etwas in Albanien: In der Hauptstadt werden Denkmäler aus kommunistischen Zeiten entfernt und das Stadtbild erneuert. Der Skanderbeg-Platz, der zentrale Ort Tiranas, gleicht derzeit einer riesigen Baustelle. 2020 soll das Stadtzentrum fertig gestellt sein und Tiranas Stadtbild zu einem der modernsten Europas machen. Es bleibt zu hoffen, dass Modernität und Weiterentwicklung nicht nur in der Erneuerung von Häuserfassaden Ausdruck finden, sondern sich auch im Denken und Handeln der Menschen widerspiegeln. Dazu ist eine objektive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte notwendig.
Das Gespräch mit Zamir führten Jenaer Albanologen im Oktober 2010 im Rahmen einer Studienreise nach Tirana. Ziel der Reise war es, sich im Austausch mit anderen deutschen und albanischen Gruppen ein besseres Verständnis für die Ereignisse in Albanien und den Systemumbruch zu erarbeiten.
Henry Ludwig ist seit 2004 Dozent für Albanisch an der FSU Jena. Er leitete im Herbst 2010 eine Studienreise nach Albanien und organisierte als Vorsitzender des Zentrums für Kultur- und Kontaktmanagement Ost- und Südosteuropa (ZEKUK) e.V. mit Projektpartnern in Tirana die Konferenz „Folgen der Diktatur – Umgang mit Unterdrückung und Lehren daraus“, bei der sich erstmals Wissenschaftler wie Betroffene auf Augenhöhe begegneten.
Lukas Schwarze studiert Südosteuropastudien sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der FSU Jena und war Teilnehmer der Studienreise und der Konferenz.
(Foto: Michel Guilly)
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